"Alpis" im Kino: Der griechische Albtraum

Alpis Kino griechische Albtraum
Alpis Kino griechische Albtraum(c) Stadtkino
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Der junge griechische Regisseur Yorgos Lanthimos hat einen bösen Film über Regeln und Rebellion gedreht. Der "Presse" erklärt er sein Spiel mit den Toten.

Die größte Oscar-Überraschung der letzten Jahre war die Nominierung von „Dogtooth“ als bester fremdsprachiger Film 2011: Mit dieser tiefschwarzen Komödie hatte sich der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos als großes Talent des europäischen Gegenwartskinos bewiesen. Er schilderte darin den absurden Alltag einer gutbürgerlichen Familie: Die Eltern wollen die Kinder vor dem schädlichen Einfluss der Außenwelt bewahren und lassen sie daher nicht von ihrem Anwesen, haben ihnen sogar eine eigene Sprache beigebracht – so sagen sie „Telefon“ statt Salzstreuer. Natürlich kann das auf Dauer nicht gut gehen.

Mit „Alpis“, 2011 mit dem Drehbuchpreis der Filmfestspiele Venedig ausgezeichnet, erweitert Lanthimos diese Thematik: Wieder zeigt er Leben als (zunächst) verwirrendes Rollenspiel, mit noch verstörenderen Resultaten. Wie in „Dogtooth“ besteht ein Teil der Faszination darin, dass sich die Regeln dieses Spiels nur schrittweise offenbaren.

Alpengipfel als Spitznamen

Eine Krankenschwester, ein Sanitäter, eine Turnerin und ihr Trainer haben den titelgebenden Verein geformt: Als „Alpen“ lassen sie sich von Hinterbliebenen anmieten, um den Platz von Toten einzunehmen. Jeder darf als Spitznamen einen Alpengipfel wählen, der Anführer hat sich den höchsten, den „Mont Blanc“, reserviert: Ein strenges Regime waltet über den manchmal abstrus komischen, manchmal schlicht unheimlichen Aktionen des Teams. Die Übertretung der Regeln zeitigt dann desaströse Konsequenzen.

Obwohl die Absurdität der Situationen und der staubtrockene Tonfall der Dialoge an den bitterbösen Humor von „Dogtooth“ erinnern, tendiert „Alpis“ stärker zum Unheimlichen, unterstützt durch außerordentliche Kameraarbeit. Oft ist nur die Person im Vordergrund scharf im Bild, der Rest ist ein mysteriöses Meer von Formen und Farben: Die Figuren treiben durch die kaum verständliche Welt. Man kann in ihren Rollenspielen eine Metapher für die Lage in Griechenland sehen: die Hauptfiguren als Stellvertreter für eine Bevölkerung, denen in desolater Lage Regeln aufgezwungen werden, gegen die sie schließlich tragisch rebellieren.

So zeigt auch dieser Film Lanthimos als Hoffnungsträger für ein europäisches Kunstkino, das in monotonen Entfremdungsbildern erstarrt. Seine existenzialistische Vision besticht dagegen durch Offenheit und perversen Witz: das moderne Leben als absurde, abgründige und attraktive Choreografie, repräsentiert von einer symbolischen Klammer. Zu Anfang und Ende sieht man die Turnerin in Aktion – eine niederschmetternde Bewegung, die von Orffs „O fortuna“ zum ewigen Synthesizer-Ohrwurm „Popcorn“ verläuft. Dafür gibt es gespielten Beifall.

(c) Stadtkino

Lanthimos ist ein Künstler, der nicht über seine Sujets reden will, weshalb er nur ungern Interviews gibt: Im Gespräch erzählt er dann aber durchaus heiter über seine Arbeitsweise. Auf die Frage, ob er bei der offenen Form seines Films alle Fragen über die Figuren überhaupt beantworten könne, winkt er gleich ab: „Natürlich nicht! Das finde ich auch nicht gut. Mein Denkprozess funktioniert anders: Ich erschaffe diese Figuren und versuche, sie Wirklichkeit werden zu lassen, ohne zu wissen, warum sie etwas tun oder was sie als Nächstes machen werden. Das ist für mich der faszinierendste Teil am Filmemachen.“

Woher kam die Grundidee für die eigenartige Rollenspielwelt dieses Films? Lanthimos erinnert sich: „Am Anfang stand der Gedanke, dass jemand Briefe im Namen eines Toten schreibt: Was, wenn die Leute mit einem Verstorbenen kommunizieren wollen? Sie engagieren jemand, der Briefe für ihn schreibt oder anruft. Mein Koautor Efthymis Filippou schlug das vor, aber es schien mir nicht sehr kinogerecht, also habe ich es verworfen. Aber es blieb mir im Kopf, und eines Tages hatte ich diesen Inspirationsschub und schrieb eine Synopsis über diese Krankenschwester, die im Hospital auf Leute trifft, die gerade jemand verloren haben. Also bietet sie ihnen an, diese Toten zu spielen: physisch! Damit wurde es wirklich interessant: Das konnte in viele Richtungen weitergedacht werden.“

Ziel: London oder Hollywood

In andere Richtungen will sich auch Lanthimos selbst bewegen – weg aus dem krisengebeutelten Griechenland nach London, oder gar Hollywood. „Daheim wird es immer schwieriger mit der Finanzierung, und mir gefällt die Idee, einmal etwas Kommerzielles zu inszenieren. Ich habe dabei die romantische Vorstellung, etwas zu machen, was zwar populär ist, aber doch etwas anders. Jedenfalls bis das Projekt zusammenbricht!“

Berührungsängste hat er nicht: „Man muss so etwas ausprobieren und schauen, was passiert. Natürlich habe ich Vorbehalte – und auch Angst. Muss ich zum Hollywood-Handwerker werden, der um jeden Job kämpft? Andererseits: Unterfinanzierte Außenseiterfilme kann ich sowieso weiter machen – die sind unabhängig, mithilfe von Freunden entstanden. Aber ich würde gerne zwischen so etwas und populärem Kino pendeln. Schließlich schaue ich selber genauso gerne kommerzielle wie Kunstfilme.“ Was ihn reizen würde? „Western! Oder Agentenfilme. Der letzte Film der Bourne-Trilogie war ein Meisterwerk! Nur Action, kaum Dialoge– fuck it! So etwas wäre super.“

Zum Regisseur

Yorgos Lanthimos (*1973) ist eine Schlüsselfigur des jungen griechischen Kinos. Nach dem Regiestudium inszenierte er Videos und Werbefilme, 2004 war er in dem Team, das die Festakte der Olympischen Spiele in Athen gestaltete. Mit dem Spielfilm „Kinetta“ (2005) betrat er die Festivalszene, „Dogtooth“ (2009) wurde in Cannes preisgekrönt und für den Oscar nominiert. Beim Erfolgsfilm „Attenberg“ (2010) von Athina Rachel Tsangari spielte er mit und war Koproduzent, für „Alpis“ erhielt er 2011 den Drehbuchpreis in Venedig. [Stadtkino]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2012)

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