Die künstlerischen Aktionen von „Pussy Riot“ erinnern an die Manifestationen der Wiener Aktionisten in den 1960er-Jahren.
Für jeden, der sich mit der österreichischen Kunst der 1960er-Jahre auseinandergesetzt hat, müssen die Alarmglocken läuten. Die Parallelen zwischen den aktuellen Aktionen der Moskauer Künstlergruppe „Pussy Riot“ und den ebenso aufsehenerregenden und kontroversiell diskutierten seinerzeitigen Manifestationen der Wiener Aktionisten drängen sich auf, wenn auch der Vergleich hinsichtlich der jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seine Grenzen hat.
Was die radikalen künstlerischen Aktivitäten im Wien der 1960er-Jahre betrifft, ist jedenfalls aus heutiger Sicht klar, dass sie wesentliche gesellschaftliche Umdenk- und Öffnungsprozesse angestoßen haben. Die Protagonisten von damals sind mittlerweile zu Recht international hoch geachtete Staatspreisträger.
Überzeichnung, Übersteigerung
Die Frage, ob die Aktionen von „Pussy Riot“ ebensolche Bedeutung erhalten, ist offen – und die Überlegung, ob die jungen Moskauer Künstlerinnen eines Tages Staatspreisträgerinnen werden, erscheint geradezu obszön. Noch haben sie wahrhaft andere Sorgen.
Nach der Überwindung eines totalitären Regimes bestand im Nachkriegsösterreich lange eine merkliche Diskrepanz zwischen bemerkenswerten Fortschritten bei der Etablierung von materiellem Wohlstand und einem deutlichen Nachhinken bei der Reflexion über modernisierungsbedürftige gesellschaftliche Strukturen und Wertvorstellungen. Mit ihren radikalen Manifestationen haben die Wiener Aktionisten auf diesen Widerspruch verwiesen, wobei ihre Sprache jene der Kunst war, in der Überzeichnung und Übersteigerung legitime Mittel sind.
Gerade aber diese Anerkennung als Kunst und das Recht auf freie Äußerung in deren Rahmen wurden ihnen seinerzeit verweigert, und man hat ihre Aktivitäten kriminalisiert. Höhepunkt war 1968 die Veranstaltung „Kunst und Revolution“ an der Wiener Universität, in deren Gefolge es zu teils drakonischen Verurteilungen der Künstler kam.
Verflechtung Staat/Kirche
Ähnliches lässt sich in Bezug auf die jüngste Aktion der Gruppe „Pussy Riot“ und die staatliche Reaktion auf diese sagen. Auch im heutigen Russland geht es darum, totalitäre Strukturen abzustreifen. Und auch im heutigen Russland macht der materielle Aufschwung (vom dem Bevölkerungsschichten nur partiell profitieren) merklich bessere Fortschritte als die anstehende Reflexion über das soziale Gefüge und seine Werte.
Wieder sind es Künstlerinnen und Künstler, die mit spektakulären und von der Gesellschaft als Provokation wahrgenommenen Aktionen auf diese Problematik aufmerksam machen. Im Falle von „Pussy Riot“ kommt der Aufschrei von weiblicher Seite und deren sehr präzise gesetzten künstlerischen Aktionen sind stark feministischen Anliegen verpflichtet.
Ihr jüngster Auftritt in der Moskauer Erlöserkirche – der zur Inhaftierung dreier mutmaßlich Beteiligter führte – thematisiert die von machistoiden Haltungen getragene, auf Machterhaltung abzielende enge Verflechtung von politischer Autorität und Kirche.
Kriminalisierter Aktionismus
Auch „Pussy Riot“ droht das Recht zu freier künstlerischer Äußerung abgesprochen und ihre Arbeit kriminalisiert zu werden.
14 namhafte österreichische Kunstinstitutionen haben ihre Besorgnis darüber bereits in einem offenen Brief formuliert, weitere haben sich nach dessen Erscheinen inzwischen angeschlossen.
Eva Badura-Triska ist Kuratorin am Mumok und hat zusammen mit Hubert Klocker eine umfangreiche Publikation zum Wiener Aktionismus erarbeitet, die im Mai erscheinen wird.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2012)