Proeuropäer, so weit das Auge reicht. Wären da nicht die alten Denkmuster.
Früher, also vor fünf Jahren etwa, da war der serbische Kosmos halt noch übersichtlich: hier die proeuropäischen Kräfte, da das nationalistische Lager, alles fein säuberlich getrennt. Man musste nicht schwarz-weiß malen, es war schwarz-weiß. Weitgehend.
Die EU steht ja im Ruf, Unterschiede einzuebnen, und in Serbien war sie damit ungemein erfolgreich: Heute nennen sich fast alle relevanten Parteien proeuropäisch. Bis auf die Radikalen, die – das ist die gute Nachricht der Wahl vom Sonntag – endgültig zum Schreckgespenst a. D. wurden, und den realitätsresistenten Ex-Premier Vojislav Koštunica.
Der Rest überbietet sich in einem Schönheitswettbewerb, wer denn der beste Europäer sei. Tomislav Nikolić, vor Jahren noch Ultranationalist aus dem Lehrbuch und im Vorleben Vizepremier des Milošević-Regimes, hat mit dieser Mimikry seine „Fortschrittspartei“ auf Anhieb auf Platz eins katapultiert. Und auch Sozialistenchef Ivica Dačić, einst Sprecher und politischer Ziehsohn Miloševićs, kann sich heute als Proeuropäer bezeichnen, ohne dabei rot zu werden.
Ja, der Dačić, das sei halt ein Pragmatiker, hört man allenthalben. Mag sein. Vielleicht halten es manche auch für besonders pragmatisch, dass Dačić erst vor Monaten vorgeschlagen hat, die Grenzen auf dem Balkan nach ethnischen Gesichtspunkten neu zu ziehen: Wo Serben wohnen, ist Serbien, wo Albaner wohnen, ist Albanien, alle Probleme gelöst. Dass sich jemand mit solchem Gedankengut anschickt, in einem Land mit einer solchen (jüngeren) Vergangenheit Premier zu werden, bereitet dann doch Unbehagen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2012)