Der exemplarische Fall von MySpace

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Rasanter Aufstieg, jäher Niedergang: Internet-Hype. Das soziale Network MySpace war drauf und dran, die Kommunikationskultur zu verändern und die Welt zu erobern – bis Facebook kam.

Mit ein wenig Glück könnten Chris DeWolfe und Tom Anderson anstelle von Mark Zuckerberg und seinen Facebook-Freunden heute Milliardäre sein. Sie waren auf dem besten Weg, selbst Medienmogul Rupert Murdoch sprang auf den Zug auf. Vor neun Jahren, im Sommer 2003, hatte Anderson eine seiner „verrückten Ideen“, wie sich DeWolfe erinnert. Beide arbeiteten damals bei eUniverse, einem Start-up-Unternehmen in einem Business-Park nahe des Flughafens von Los Angeles. Ein halbes Jahr, bevor Zuckerberg& Co. in einem Studierzimmer in Harvard ein Konzept entwickelten, das die Kommunikationskultur weltweit verändern sollte, steckte Anderson den Kopf in DeWolfes Büro.

Er fiel gewissermaßen mit der Tür ins Haus: „Kumpel, wir haben etwas zu besprechen. Ich denke an ein Projekt wie ,Friendster‘“. Die Website „Friendster“ galt zu der Zeit als das „neueste Ding“ im globalen Netz. Das soziale Network zählte eineinhalb Millionen Nutzer, und seine Gründer waren kaltschnäuzig und selbstbewusst genug, gerade ein Übernahmeoffert von Google über 30 Millionen Dollar ausgeschlagen zu haben.

„Friendster“ sei Pate für MySpace gestanden, schildert Julia Angwin auch in ihrem Buch „Stealing MySpace“. Den Namen entlehnten DeWolfe und Anderson von einer Online-Lagerfirma, nachdem sie „YoPeeps.com“ und „Comingle.com“ verworfen hatten. Der Marketing-Profi DeWolfe, Sohn eines Historikers aus Portland, und der Ex-Hacker Tom Anderson mit dem Habitus eines Vagabunden, beide bereits in ihren Dreißigern, sahen in der digitalen Goldgräberstimmung des neuen Jahrtausends ein Vakuum für MySpace.


Freizügige Fotos.
Anderson war fasziniert von den Scharaden, dem Spiel mit Identitäten und dem Nonkonformismus im Internet. „Jeder Tag ist Halloween“, formulierten Leute, die vorgaben, Homer Simpson oder Britney Spears zu sein, in einem Manifest. „Jede Identität ist provisorisch, abhängig von Persönlichkeit, Stimmung oder Temperament.“ Der erste Coup von MySpace war es, das bisexuelle Szeneidol Tila Tequila und ihre Gemeinde von 40.000 Fans von „Friendster“ abzuwerben. In der Folge tingelten DeWolfe und Anderson durch Nachtclubs in 17 US-Städten. Die freizügigen Fotos der „Models“ landeten auf der Website, wo sie prompt den Internetverkehr anregten. Schließlich überzeugten sie in Clubs wie dem „Viper Room“ auf dem Sunset Strip neue, angesagte Bands, ihre Videos auf MySpace zu lancieren. „Wir wollen das MTV des Internets sein“, umriss Chris DeWolfe das Credo.

Hipster und Kreative aus New York und Los Angeles fanden auf MySpace eine verspielte Nische, Bands eine PR-Plattform. Das Netzwerk wuchs blitzartig zu einer Internet-Sensation. Zunächst in Insiderkreisen und danach mit Wachstumszahlen von drei Millionen Nutzern im Monat verbreitete es sich flächendeckend zur meistfrequentierten Website der USA. Am Zenit zog es im Jahr 2008 76 Millionen Besucher an. Da war Facebook allerdings schon dicht auf seinen Fersen.

Die rasante Entwicklung blieb nicht unbemerkt von großen Medienkonzernen. Sumner Redstones Viacom und Rupert Murdochs News Corporation lieferten sich ein hitziges Übernahmeduell, die beiden Tycoons lizitierten den Preis in die Höhe. Am Ende erhielt Murdoch für 580 Millionen Dollar im Juli 2005 den Zuschlag, Redstone feuerte daraufhin den Viacom-Chef. Google-Boss Eric Schmidt pries indes die Entscheidung Murdochs: „Möglicherweise war dies das beste Investment, das er je gemacht hat.“ Ein fataler Irrtum, wie sich herausstellen sollte.


„Die Party war vorbei.“ Am Anfang schien alles eitel Wonne. Murdoch ließ den beiden Gründern weitgehend freie Hand, tauchte regelmäßig im Hauptquartier in Santa Monica auf, holte ihren Rat als Hightech-Gurus ein und lud sie zu Strategiesitzungen auf seine Ranch im idyllischen Carmel. Doch der Erfolg wollte sich nicht so rasch einstellen, die Gewinnzahlen blieben hinter den Erwartungen zurück, die Konkurrenz holte in Riesensprüngen auf. Murdoch verlor zusehends das Interesse – umso mehr, als er sich einem neuen Lieblingsprojekt zuwandte, dem Kauf des „Wall Street Journal“.

Als Entertainment-Forum umwarb MySpace weiterhin Musiker und Filmemacher. Indessen ließ News Corporation nichts unversucht, die Tochterfirma in ein profitables Unternehmen umzuwandeln. Sie startete einen Relaunch, heuerte eine neue Führungsspitze an, engagierte Facebook-Manager. Und als alles nichts fruchtete, kündigte sie in einer Tabula-rasa-Aktion beinahe die Hälfte der Mitarbeiter. „Die Party war vorbei, sie ist weitergezogen“, urteilte Ex-MTV-Chef Michael Wolf nüchtern. „Facebook hat sich zu dem Kommunikationsvehikel entwickelt.“

Im Lauf des Jahres 2008 hatte Facebook mit seiner klaren und minimalistischen Ästhetik MySpace bei den User-Zahlen hinter sich gelassen. Auch in Sachen Innovation konnte MySpace nicht mehr Schritt halten. Während die Konkurrenz aus dem Silicon Valley zum globalen Siegeszug ansetzte, litt MySpace unter einem massiven Imageproblem.

Facebook zog mit seinem „sauberen“ Design, das an die Aufgeräumtheit der US-Vorstädte gemahnt, eine wohlhabendere Klientel und ergo mehr Werbekunden an. MySpace fiel in puncto Einkommen des Durchschnittsnutzers deutlich ab. Die überladene, geradezu chaotisch anmutende, individuell gestaltete Website überforderte viele, es setzte eine Fluchtbewegung ein – vom Selbstdarstellungsmedium zum Konversationsforum Facebook. Selbst das Poster-Girl Tila Tequila, die „Queen von MySpace“, wandte sich dem Rivalen zu, in mancher Hinsicht ein Gegenentwurf von MySpace. „Ich habe schlicht meine Leidenschaft verloren, ich weiß nicht einmal mehr mein Passwort“, teilte sie mit.


Schlechtes Design.
Sean Parker, Erfinder der Internet-Musikbörse Napster und Intimus des Facebook-Chefs Mark Zuckerberg, schürfte tiefer. „Sie haben bei der Produktentwicklung versagt.“ Ätzend fügte er hinzu: „Es war schlechtes Design.“ Murdoch suchte derweil verzweifelt einen Käufer, im Vorjahr brachte er sein einstiges Online-Aushängeschild für 35 Mio. Dollar an – ein katastrophaler Deal, nicht untypisch für die jähen Schwankungen und den Hype im Internet-Business. Die Brüder Tim und Chris Vanderhook schlugen mit ihrer Investmentfirma „Specific Media“ bei dem „Schnäppchen“ zu. Zugleich holten sie den Sänger-Schauspieler Justin Timberlake mit an Bord. Er hatte in dem Film „Social Network“ just Sean Parker verkörpert. Jetzt soll er als Galionsfigur für den Ausbau der Musik- und Entertainmentsparte sorgen. Der freie Fall scheint gestoppt, es geht wieder leicht aufwärts. Als Nischenprodukt ist MySpace jetzt wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt.

Kurzer Boom

Im Sommer 2003 gründeten Chris DeWolfe und Tom Anderson MySpace. Als Plattform für Musikbands wuchs das Network zum Boom-Portal.

Den Zenit erreichte MySpace bereits zwei Jahre später, als sich Medienmogul Rupert Murdoch für 580 Mio. Dollar einkaufte.

Facebook überholte MySpace 2008. Murdoch stieß das Network im Vorjahr für 35 Mio. Dollar ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2012)

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