Im Gehirn der „Documenta 13“-Chefin

(c) Dapd (Jens-Ulrich Koch)
  • Drucken

Ihren stärksten Ausdruck findet die Kunstschau in Kassel im „Brain“, einem kleinen, vollen Raum.

Viel zu sehen ist auf den ersten Blick nicht an prominentester Stelle der „Documenta“, im Erdgeschoß des Fridericianums: Im rechten Saal steht eine einsame Vitrine mit drei Skulpturen der „Documenta 2“, die sich auf einem historischen Foto daneben wiederholen (Nachdenken über das Präsentieren von Kunst an sich!). Im linken Saal steht eine einsame Vitrine mit dem seitenlangen Absagebrief des deutschen Malers Kai Althof, der beschreibt, wie blockiert er durch die überragende Intellektualität Carolyn Christov-Bakargievs war. Um so etwas auszustellen braucht es Mut. Oder sehr viel Naivität.

Zwischen Theorie und Peinlichkeit aber liegt das Hirn der „Documenta 13“ – „The Brain“ nennt die Leiterin den intimen Raum der Rotunde. „Ein Rätsel“ sei dieser, im Gegensatz zur übrigen, sehr luftigen Ausstellung mit Kunst und Artefakten völlig angestopft. Es entpuppt sich als Schnitzeljagd durch die kulturelle Verfasstheit der „Documenta“-Leiterin. Die 54-Jährige wuchs bei ihrer italienischen Mutter in Washington auf, einer Archäologin, zwischen alten Vasen, zeitgenössischen Künstlern und 68er-Aktivisten, zwischen den Kulturen also, zwischen dem Bewahren von Geschichte, der Skepsis gegenüber der Gegenwart und dem Drang, die Zukunft zu verändern. In etwa so sieht es im „Brain“ auch aus. (Immerhin, trotz Eitelkeit, es gäbe weniger spannende Einblicke in menschliche Hirnwindungen).

Zwei Vitrinen bergen neun von weltweit 80 erhaltenen „baktrischen Prinzessinnen“, kleine Sitzfiguren, entstanden 2500 bis 1500 v.Chr. in Zentralasien. Es sind Informationsträger, merkt Christov-Bakargiev an, in der Größe unserer Smartphones. Eine Entwurfszeichnung für den ersten Computer „Z1“ von Konrad Zuse schlägt einen weiteren Link zur Technologie. Mit dem Hinweis auf Christov-Bakargievs Liebe zur „Arte Povera“ geht es weiter zum Naturbegriff: Giuseppe Penone hat zwei ident wirkende Flusssteine auf den Boden gelegt. Einer ist tatsächlich vom Wasser geformt. Der andere ist die menschlich gefertigte Kopie. Was ist Wirklichkeit? Was Kunst? Was Natur? Was Gegenwart, was Geschichte?

Es gab einen Ort, an dem das Nachdenken darüber für alle „Documenta 13“-Künstler begann. Die Leiterin schickte sie an die 15 Kilometer außerhalb Kassels liegende Gedenkstätte Breitenau. Im Mittelalter als Benediktinerkloster gegründet, waren hier später eine „Korrektionsanstalt“, ein KZ, ein Mädchenheim und zuletzt die Psychiatrie. Ein Ort des Andersseins über die Zeiten hinweg. Durch ein Artefakt ist Breitenau jetzt auch mit dem „Brain“ der „Documenta“ verlinkt: Judith Hopf stellt eine tönerne Maske aus der Werkstatt des Mädchenheims aus.

In Breitenau selbst sind weiße 3-D-Masken Hopfs zu sehen. Verschränkung ist ein durchgängiges Motto. „Zerstörung und Wiederaufbau“ lautet das offizielle. Davon erzählt etwa ein Landschaftsbild des afghanischen Malers Yusuf Asefi, der im Taliban-Regime die gegenständlichen Gemälde der Nationalgalerie Beirut vor der Zerstörung retten konnte, indem er sie mit Wasserfarbe abstrakt übermalte. Oder sonderbare, intergalaktisch wirkende Figürchen: Es sind aus Metall, Elfenbein, Glas und Ton verschmolzene ehemalige Exponate aus dem Nationalmuseum Beirut, zerstört und dadurch zu Neuem zusammengefügt bei der Bombardierung im Bürgerkrieg 1975 bis 1990. Hier, in diesem kleinen Raum, findet die „Documenta 13“ ihren stärksten Ausdruck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.