Alle rennen im Kreis, keiner kennt das Ziel: Föderalismus macht Schulen kaputt

Warum bloß wollen Erwin und Josef Pröll ein Schulmodell kopieren, das – wie das deutsche Beispiel anschaulich zeigt – Eltern, Kinder und Bildungsexperten in die Verzweiflung treibt?

Man kommt, wenn man möchte, raus aus Radlbrunn. Zwei, drei Stunden wäre man höchstens unterwegs, dann müsste man noch über die deutsche Grenze drüberfahren. Zumindest, wenn man vorhat, die Verantwortung für die österreichischen Schulen und Lehrer auf die Bundesländer zu übertragen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der niederösterreichische Landeshauptmann tatsächlich noch nie in Deutschland war. Wenn doch, muss er sich dort auf Schritt und Tritt die Ohren zugehalten haben.

Denn es gibt kaum ein Thema, das die Deutschen so sehr aufregt wie das Chaos in ihrem Schulsystem. Flächendeckend wird es in Fernsehen, Zeitungen und Spielplatzgesprächen beklagt. Als Exklusivinformation für Erwin und Josef Pröll sei hinzugefügt: Es ist ein System, in dem die Verantwortung für Schulen und Lehrer bei den Bundesländern liegt.

Konkret kann man sich das so vorstellen: Täglich in der Früh setzen sich Kolonnen von Kindern und Jugendlichen über die Landesgrenzen hinweg in Bewegung. Mit der Bahn, mit dem Taxi, im Auto der Eltern, je nach deren Verzweiflungsgrad. Die einen fahren von Hessen nach Thüringen, vom „Problemschulland“ ins PISA-Musterland.

Gleichzeitig strömen bayerische Kinder nach Hessen – das sind all jene, die den bayerischen Numerus clausus nicht geschafft haben, aber in Hessen willkommen sind.

Wobei das Wort „Gymnasium“ nicht eindeutig ist. Es gibt die Oberstufenversion, das „normale“ neunjährige, und die Turbo-Version mit acht Jahren. Daneben existiert nicht nur die Haupt-, sondern auch die Realschule. Und die Gesamtschule. Und die Stadtteilschule, in der alles drin ist. Aber auch das nicht überall: In Berlin dauert die Grundschule sechs Jahre, Ähnliches wollte eben auch Hamburg einführen, scheiterte aber an einer Volksabstimmung.

Alle organisieren und reformieren herum, aber keiner weiß, was der andere vorhat, und niemand kennt das Ziel. Klar ist nur das Gesamtergebnis, das Bildungsniveau: Das ist – bei vergleichsweise großem Mitteleinsatz – schlecht. Weil viel zu viel Geld und Energie fürs Sortieren der Kinder draufgeht und viel zu wenig Energie dann fürs Unterrichten übrig bleibt.

Was könnten Erwin und Josef Pröll daraus lernen?

Erstens: Deutsche Bundesländer sind wesentlich größer als österreichische, hier wäre das Chaos also noch viel schlimmer.

Zweitens: Zersplitterung ist die beste Methode, um Verantwortung zu verschleiern. So geschehen auch bei der Zerschlagung der ÖBB in viele Einzelgesellschaften: Da waren zwar plötzlich zahllose neue Posten zu besetzen und Verträge zu verteilen. Bloß fürs große Ganze, den Bahnverkehr in Österreich, war plötzlich niemand mehr zuständig. Das Ergebnis ist bekannt, niemand ist schuld.

Drittens: Wer Verantwortung und Gestaltungswillen erst einmal abgegeben hat, kriegt sie nie wieder zurück. Der deutsche Exkanzler Gerhard Schröder dachte einmal kurz daran, es zu versuchen, und schrieb eine Rede, in der er eine „gewaltige nationale Kraftanstrengung“ zur Bündelung der Bildungsagenden forderte. Im letzten Moment schreckte er vor der Rede zurück. Er hätte damit einen Krieg mit den Ländern begonnen, der nicht zu gewinnen war.

Aber zumindest Letzteres weiß man in Radlbrunn sicher ganz genau.


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Zu
r Autorin:

Sibylle Hamann

ist Journalistin

in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2010)

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