Großbritannien: Big Brother schaut immer mit

(c) EPA (Sergei Chirikov)
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Wer arglos durch London marschiert, wird am Tag 300 Mal auf Überwachungskameras verewigt. Doch derlei Sicherheitsmaßnahmen regen im Mutterland des Liberalismus kaum noch jemanden auf.

LONDON.Ein argloser Besucher mag glauben, im Millionenheer der Metropole London unerkannt untertauchen zu können. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein: An einem Tag wird man in London durchschnittlich nicht weniger als 300 Mal auf Film festgehalten. Im öffentlichen Verkehr, in Amtsgebäuden, Banken, Schulen, Einkaufszentren – die Überwachungskameras sind überall.

Mit mehr als 4,2 Millionen Kameras hält Großbritannien einen einsamen Weltrekord. Erstmals wurden Überwachungssysteme 1985 im Seebad Bournemouth installiert, die Rechtsgrundlagen schuf man erst Jahre später. Eine Überwachungskamera darf im Prinzip jeder aufstellen, die Polizei darf im Verdachtsfall Zugriff verlangen. Nach einer Reihe spektakulärer Kriminalfälle und im Zeichen des IRA-Terrors in den späten 1980er-Jahren gewann die Überwachung weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz.

70 Prozent Zustimmung

So zeigen Umfragen regelmäßig eine Mehrheit von rund 70 Prozent für die Überwachungssysteme. Kritiker beschränken sich mittlerweile darauf, vor einer „Institutionalisierung des Misstrauens“ (Dolan Cummings, Direktor des liberalen Thinktanks „Institute of Ideas“) zu warnen. Einigermaßen umstritten ist auch, ob die Überwachung Verbrechen überhaupt verhindern kann oder eher bei der Aufklärung hilfreich ist.

Dennoch ist der Siegeszug nicht zu stoppen. Rasante technische Fortschritte haben dazu geführt, das heute Überwachungssysteme Realität sind, von denen James Bond nur träumen kann: Verborgene Kameras an Gebäuden, Miniaturkameras in Hüten oder am Anzugrevers sind ebenso längst im Einsatz wie Kameras in ferngesteuerten Mini-Hubschraubern. Letzter Schrei der Industrie ist die Zusammenführung von Bild- und Tonüberwachung.

Dank Digitalisierung sind die Betriebskosten dramatisch gesunken, Hausbesitzer (und das sind 70 Prozent der Briten) werden aktiv aufgerufen, Überwachungsanlagen zu installieren. In der unmittelbaren Umgebung jenes Hauses, in dem vor knapp 60 Jahren der Schriftsteller George Orwell den Roman „1984“ und damit den „Big Brother“ schuf, befinden sich heute 32 Überwachungskameras.

Lückenlose Bewegungsprofile

Auf dem Weg in den Überwachungsstaat sind die Kameras aber nur ein Merkmal von vielen. Auf den großen Flughäfen werden biometrische Sicherheitsgeräte installiert. Seit Jahren plant die Labour-Regierung die Einführung von Personalausweisen mit Microchips, die aber nicht nur wegen der Milliardenkosten umstritten sind. Konservative und Liberale sehen darin einen massiven Einschnitt in die bürgerlichen Freiheiten. Umgekehrt hat niemand etwas dagegen, dass sich mit Hilfe von Mobiltelefonen, Internet-Loggs und den Magnetkarten, von denen jeder Brite eine Vielzahl hat, problemlos lückenlose Bewegungsprofile erstellen lassen.

Die Bürgerrechtsgruppe „Liberty“ warnt: „Was getan werden kann, wird früher oder später auch getan“. Aufsichtsgremien wie der Datenschutzrat gelten als zahnlos, als wahrer Hüter der Freiheit hat sich ausgerechnet das antiquierte House of Lords profiliert.

Aus der ungeheuren Menge an Aufnahmen aus Überwachungskameras hat sich mittlerweile ein lukratives Geschäft für die Behörden entwickelt. Die Polizei verkauft ihr Filmmaterial auf Messen wie in Cannes höchst erfolgreich an Filmproduzenten, die etwa Massenszenen aus Londoner U-Bahnen brauchen.

AUF EINEN BLICK

Der Kanadier Christopher N. missbrauchte Kinder in Thailand, Vietnam und Kambodscha und stellt Fotos davon ins Internet. Diesen Bildern nach zu urteilen waren bis zu sieben der Opfer jünger als zehn Jahre. Nach einer Großfahndung wurde er Freitag in Thailand verhaftet. [EPA]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2007)

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