Bachmann-Preis: Einbrüche in die Familie

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Beim Wettlesen dominieren heuer Jugend- und Familiengeschichten. Eine deutsche Autorin war manchen zu „österreichisch“. Favoritin ist bisher Olga Martynova.

Mit einem harten Brocken Literatur endete der erste Tag beim heurigen Bachmann-Wettbewerb: Die österreichische Jurorin Daniela Strigl hat mit der in Berlin lebenden Sabine Hassinger eine sich an der Avantgarde orientierende Autorin zum Wettlesen eingeladen. Die deutschen Richter betrachten seit Jahren eine Prosa, die an die sprachexperimentelle Tradition der Wiener Gruppe anknüpft, als österreichische Marotte. Viele gute Texte, wie etwa jener von Andrea Winkler, fielen deshalb bei den deutschen Juroren durch. Strigl machte nun die Probe aufs Exempel und holte eine deutsche Autorin mit einem „österreichischen“ Text ins Halbrund des ORF-Theaters.

„Die Taten und Laute des Tages“ hieß der Beitrag der Musiktherapeutin Sabine Hassinger und führt, obwohl Prosa, eine „Besetzungsliste“ an: „Eine Berta istgleich die Erste Person“, steht da, und darunter: „Ein Ich istgleich die Erste Person“. Ist man gewillt, sich darauf einzulassen, kann man daran erkennen, dass es um Identitätsprobleme geht. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern mit sprachlichen Mitteln werden psychische Vorgänge in einer Familie geschildert: „Berta schaut in den Spiegel und zieht das Kinn hoch den Schädel nach hinten, bis ich das Gesicht im Spiegel gerade noch erblicke und das ist der Winkel in dem sein Gesicht aufgebahrt zu sehen war.“

Grundsatzdebatte der Jury

Manches erinnert hier an die Art-brut-Literatur, deren Sprache jenseits der üblichen Syntax und Grammatik ist. Sie stellt das eigentlich Poetische dar, weil sie die Alltagssprache solcherart übersteigt. Unserem heutigen „Zeitmanagement“ entspricht eine solche Literatur nicht, wie Neojurorin Corina Caduff zurecht einwarf. Genau das ist aber das Zeitgemäße daran.

Strigl hatte richtig spekuliert. Ausgehend von diesem Text entspann sich eine Grundsatzdebatte der Jury. Hubert Winkels und Burkhard Spinnen vertraten die Ansicht, dass experimentelle Literatur sich ihre Legitimität neu erarbeiten müsse. Doch die beiden österreichischen Juroren sahen darin die „Notwendigkeit eines Temperaments“ und führten die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ins Treffen. Entschieden wird der Streit am Sonntagvormittag, wenn die Jury die Preise bestimmt.

An die Vorjahressiegerin Maja Haderlap schloss Hugo Ramnek an. Sein „Kettenkarussell“ dreht sich schwungvoll um die geteilte Kärntner Seele: „Sie ist vom Dorf auf der anderen Seite der Wiese. Dort wohnen die verbohrten Slowener, wie sie im Städtchen sagen.“ Angesiedelt ist der Text des in der Schweiz unterrichtenden Deutschlehrers auf einem Rummelplatz, wo ein dreitägiges Fest gefeiert wird. Ramnek fängt die Schwierigkeiten der beiden in Kärnten lebenden Volksgruppen, miteinander zu feiern, in eindringlichen Bildern und drastischer Sprache ein. Dabei schießt er aber übers Ziel hinaus. Die leitmotivisch durchgezogene Symbolik der Echse (es wird ein Krokodil ausgestellt) wirkt zu aufdringlich, die erotische Aufladung ist überdeutlich: „Und mit ihm schwebt über Wiese und Städtchen und Dorf, Drehschenkel, Schoßsog und Schwindelreptil, rundherum im Ringelspiel, im Ringelwindspiel, im großen Wiesenwindringelspiel.“ Man war sich in der Jury weitgehend einig, dass der Text zu sehr auf Wirkung angelegt und damit überinstrumentiert sei.

Unpathetisch: Cornelia Travnicek

Größere Chancen auf einen der fünf Preise hat wohl Cornelia Travnicek. Anders als Ramnek geht sie völlig unpathetisch mit Sprache um. Die Geschichte an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein ist scheinbar naiv erzählt, birgt aber so manche Fallgrube, in die man als Pubertärer auf dem Weg zur Eigenständigkeit fallen kann. So schenken etwa die Eltern ihren Kindern einen Hund, weil sie der Ansicht sind, dass die „jetzt alt genug seien, um ernsthaft Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen“. Aus Sicht der Kinder: um einige Jahre zu spät, da sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich mehr Verantwortung für sich selbst übernehmen wollten.

Es scheint heuer das Jahr der Hunde-, Kindheits- und Familiengeschichten zu sein. Die Zugänge zu diesen Themen sind allerdings sehr unterschiedlich. Der junge Bonner Autor Andreas Stichmann träumt sich etwa in einen „Einsteiger“: Der Held seiner Geschichte steigt in eine Wohnung ein und imaginiert sich anhand der vorgefundenen Gegenstände in die dort lebenden Familienmitglieder. Er macht das so intensiv, dass er praktisch Teil der Familie wird. „Ja – vielleicht werde ich da sein und dazugehören, und die Zeit wird verfliegen, und Familiendinge werden erledigt werden.“ Spinnen nannte das den „vampiristischen Text“ einer Identitätserschleichung.

Favoritin für den Hauptpreis ist nach zwei Dritteln aber die gebürtige Russin Olga Martynova: Sie hat es verstanden, Vergangenheit und Gegenwart, Märchen und Realismus, Skurriles und Emotionales, Familie und Erotik luftig mit dem Thema Integration zu verknüpfen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2012)

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