Polemik war am Vormittag. In den Abendstunden ist der Nationalrat eine beinahe kultivierte Institution. Ein Besuch auf der Galerie.
Wien. Das Auffälligste ist die Abwesenheit. Zwei Drittel der Mandatare sind nicht im Saal. Und vom verbliebenen Drittel hört allenfalls die Hälfte zu. Der Tonfall ist verbindlich bis sanft, die Zwischenrufe haben nichts mehr von der gewohnten Ruppigkeit. Oben auf den Rängen harrt noch ein Dutzend Zuschauer aus. Einer hat – den Kopf auf seine Arme und seine Arme auf das Geländer gestützt – die Augen geschlossen. Er dürfte eingeschlafen sein. Sitzung des österreichischen Nationalrats, Mittwoch, 18 Uhr.
Neun Stunden davor: Der Sitzungssaal ist voll besetzt. „Teufelswerk“ nennt Josef Bucher (BZÖ) den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), den Regierung und Grüne im Begriff sind zu beschließen. „Verfassungsputsch“, poltert Heinz-Christian Strache (FPÖ), was Kanzler Werner Faymann verbal nicht ungesühnt lässt. Parlamentspräsidentin Barbara Prammer fordert FPÖ und BZÖ auf, ihre aktionistischen Einlagen (Plakate gegen den ESM) zu beenden. Vergeblich. Alle schreien durcheinander. Aufgebracht. Wütend. Der ORF überträgt live.
Was den Unterschied zwischen einer Plenarsitzung am Abend und dergleichen am Vormittag ausmacht? Die Fernsehkameras sind ausgeschaltet. Mit dem Ende der Liveübertragung im zweiten ORF-Sender am frühen Nachmittag verändern die Mandatare ihr Sozialverhalten und damit das Sitzungsbild. Aus einer polemisch-aggressiven, bisweilen niveaulosen Institution wird dann, wenn schon nicht eine kultivierte, so doch zumindest eine, die versucht, kultiviert zu sein.
Mittwochabend, kurz nach 18 Uhr, debattiert der Redner Martin Bartenstein, vormals Minister, mit Josef Bucher auf eine Weise, die Herrn Schäfer-Elmayer zur Freude gereichen würde. Man teilt die Sicht zum europäischen Fiskalpakt zwar nicht, aber man lässt den anderen zu Ende argumentieren. Ganz was Neues. Fritz Neugebauer, diensthabender Zweiter Präsident, ist weit davon entfernt, einen Ordnungsruf erteilen zu müssen. Vormittags ist das, wie Ex-Nationalratsmandatar Uwe Scheuch sagen würde, „part of the game“.
Mit dem Eifer ist es dafür nicht mehr ganz so weit her. Die Staatssekretäre Josef Ostermayer und Andreas Schieder sind zumindest körperlich anwesend. Dass beide Zeitung lesen, ist insofern nicht weiter tragisch, als sonst gar kein Regierungsmitglied mehr da ist. Im Plenum haben ein paar Hinterbänkler einen der freien Plätze weiter vorn ergattert: 15 Minuten Klubchef sein. Oder wenigstens ein bisschen wichtiger als sonst.
Einmal noch wird es laut
Auf den ÖVP-Rängen ist Klubobmannsesselprobesitzen gerade nicht möglich, weil der Chef noch oder schon wieder die Stellung hält. Karlheinz Kopf, entspannt zurückgelehnt, schreibt E-Mails oder an einer Rede. Jedenfalls tippt er auf seinem Tablet. Aber immerhin. Denn von den fünf Klubchefs ist sonst nur noch Josef Bucher im Raum.
Neugebauer ruft den grünen Budgetsprecher Werner Kogler ans Rednerpult: Leider nicht da. Der Nächste bitte. Als Wirtschaftsbündler Peter Haubner fertig ist, vergisst die Hälfte des ohnehin sehr dezimierten ÖVP-Kollegiums auf den Applaus: Zu beschäftigt sind sie mit ihren Zeitungen und Handys und Laptops. Um 18.19 Uhr betritt Maria Fekter den Sitzungssaal. Schaut Ostermayer an, lächelnd, achselzuckend, sich also wundernd, wo denn die anderen sind. Ostermayer zuckt seinerseits mit den Achseln: Weg, jedenfalls.
Als Ex-Staatssekretär Christoph Matznetter (SPÖ) Ex-Minister Herbert Scheibner (jetzt beim BZÖ) ins Wort fällt, wird es auch noch einmal laut. Mag sein, dass da noch alte Rechnungen aus schwarz-blauen Zeiten offen sind. Scheibner brüllt Matznetter an, und Matznetter brüllt zurück. Wen das kümmert? Scheibner und Matznetter vor allem.
Von draußen sind die Alarmglocken zu hören, die im gesamten Gebäude an die nahende Abstimmung über den Fiskalpakt erinnern. Langsam trudeln sie wieder ein, der Kanzler, die Minister, die Abgeordneten. Um 19.05 Uhr ist der Fiskalpakt durch. Mit den Stimmen der Regierungsparteien. Stoisch nimmt die Opposition das Ergebnis zur Kenntnis: Es war kein anderes zu erwarten.
Kurz nach Mitternacht, wenn der letzte Beschluss (die UVP-Novelle) gefasst ist, gehen dann alle. Gute Nacht, kein böses Wort. Um neun Uhr müssen sie ausgeschlafen sein, dann geht es wieder los. Live. Im Fernsehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2012)