Egon Schiele: Verfemt als „Kinderschänder und Pornograf“

(c) Wien Museum
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In Neulengbach blickt man zurück: Vor hundert Jahren saß Egon Schiele dort wegen eines Mädchenakts in Haft. Danach änderte sich sein Stil, sein Ruf war ruiniert.

Noch heute hat dieser Ort eine, ja, Aura, der man sich nicht entziehen kann – die Gefängniszelle, in der Egon Schiele 1912 fast einen Monat lang, 24 Tage, einsitzen musste. Eine knappe Fahrstunde von Wien entfernt, in Neulengbach im Wienerwald, geht es vom sonnigen Innenhof des „Alten Gerichtsgebäudes“ ins Dunkel, ein paar Stufen nur hinunter, „bitte bücken“, wird man gewarnt, schon steht man im Kellergeschoß. Steht mitten in der Sphäre einer zäsurhaften Läuterung, wie Schiele-Experte Diethard Leopold meint. Jedenfalls direkt an einem seltsam vertrauten Unort, den man aus den berührenden Aquarellen Schieles aus seiner Haft kennt, ein heute in der Albertina verwahrter Zyklus.

Da ist der schwere Balken, der quer über den Gang läuft. Da wurden im Eck ein paar Besen und andere Reinigungsgeräte arrangiert wie damals. Da reihen sich die sechs schmalen Zellen aneinander. Da steht die schwere Holztüre der Nummer zwei offen. Auf ihrer Innenseite entdeckt man die kryptischen Initialen „MH“, die schon Schiele in einer der Zeichnungen festhielt. Auf die Holzpritsche hat jemand tatsächlich eine frische Orange gelegt. Eine solche hat Schieles Lebensgefährtin Walburga Neuzil dem Feinspitz mitgebracht. Bevor er die Saisonfrucht verzehrte, malte er sie – „Die eine Orange war das einzige Licht“, schrieb er dazu, am 19.April 1912.

„Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“

51 Jahre später hat es gerade einer texanischen Kunsthistorikerin bedurft, um diesen Ort wiederzuentdecken: 1963 schummelte sich Alessandra Comini in das Amtsgebäude und identifizierte die Zelle zwei als die Schieles. Sie wurde als Brennholzlager verwendet. Später war sie lange das Einzige, das in Neulengbach an den Malerstar erinnerte. Und an eine seltsame Geschichte, die Schieles Leben und Werk geprägt hat. Das 13-jährige Mädchen Tatjana war aus ihrem gutbürgerlichen Haus ausgerissen und zu dem Maler und dessen Muse geflohen, von wo sie nach einer Nacht wieder zurückkehrte. Doch der Vater hatte Schiele bereits bei der Polizei gemeldet. Obwohl er die Entführungsanzeige wieder rückgängig machen wollte, nahm alles seinen Lauf.

Schiele wurde nach einer Hausdurchsuchung schließlich aufgrund eines im Schlafzimmer hängenden Mädchenaktes wegen „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“ verurteilt. Der Richter ließ das Blatt im Gerichtssaal verbrennen. Und, wie Diethard Leopold feststellte, malte Schiele daraufhin keine nackten blutjungen Mädchen mehr. Sein Stil änderte sich. Er wurde objektiver. Er trennte sich von Wally und heiratete die bürgerliche Edith.

Schieles Ruf aber – zurecht oder zu Unrecht wird man wohl nie mehr klären können – war ruiniert. Noch heute scheint es, lauscht man dem Bürgermeister, vor allem auch in Neulengbach, schwierig, den als „Kinderschänder und Pornografen“ verfemten Schiele auszustellen: „Da geht es uns ein bisserl wie der Bundesregierung, die die EU positiv darstellen soll.“ Trotzdem versucht man genau das jetzt das erste Mal in Neulengbach, aus dem etwas grotesken Anlass des 100-Jahr-Jubiläums von Schieles Inhaftierung. Denn vor 101 Jahren schon war Schiele von Krumau nach Neulengbach gezogen, „um für immer hier zu bleiben“, wie er schreibt, und „große Werke zu vollführen“. Zweiteres gelang ihm auch, 1911/12 entstanden Hauptwerke wie das umstrittene Wally-Porträt, die „Eremiten“ oder „Kardinal und Nonne“.

Immerhin hat man Schieles von van Gogh inspiriertes Ölbild seines Neulengbacher Schlafkabinetts als Leihgabe des Wien-Museums für eine Art Sommerfrische an seinen Ursprungsort bekommen. Genauso wie einen wunderschön tanzenden kleinen „Herbstbaum“ aus dem Leopold-Museum, eine selten gezeigte Porträtskizze der Wally aus der Sammlung des Künstlerpaares Hauer/Fruhmann sowie einige der erotischen Aktzeichnungen, die Schiele in Schwierigkeiten brachten.

„Nicht gestraft, sondern gereinigt“

Im Keller ist anhand von Reproduktionen eine veritable Schiele-Retrospektive zu sehen und der Grundriss seiner Neulengbacher Wohnung. Das Haus Au 48 war, als Schiele einzog, ein Neubau und steht heute noch. An der 1970 umbenannten Egon-Schiele-Straße übrigens. Hier bewohnte der Maler mit seinem Modell gerade einmal „appetitliche“, wie er schrieb, 40 Quadratmeter, Küche, Zimmer, Kabinett. Und eine Veranda.

Vom Idyll kam er in die Zelle, die alles ändern sollte: „Nicht gestraft, sondern gereinigt fühl ich mich!“, lautet die Inschrift auf der Zeichnung des Gefängnisgangs. Man würde zu gerne wissen, ob er sich ironisch auf die dort bereitstehenden Besen bezog. Oder tatsächlich auf sein Gewissen.

„Egon Schiele – eine Affäre?“ , bis 9. 9., Museum Region Neulengbach, Mi.–So. 13-18h

Auf einen Blick

Schieles Haft in Neulengbach. Weil Egon Schiele (1890 - 1918) und seine Lebensgefährtin Wally 1912 eine 14-jährige Ausreißerin bei sich in Neulengbach aufgenommen hatten, kam es zu Ermittlungen der Gendarmerie. Bei einer Hausdurchsuchung wurden 125 Zeichnungen konfisziert, darunter auch das „Farbblatt, darstellend ein ganz junges, nur am Oberkörper bekleidetes Mädchen“, das in Schieles Schlafzimmer hing. Diesen Raum konnten auch Schieles Kindermodelle frei betreten. Der Vorfall brachte den Maler für fast einen Monat in Untersuchungshaft und Arrest.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2012)

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