„Citizen Kane“ ist nicht mehr der beste Film

Hitchcocks „Vertigo“ gewann erstmals die renommierteste Kino-Umfrage. Was wählte die „Generation Internet“ sonst? Mehr Stummfilme!

Und der Verlierer ist – „Citizen Kane“. Die einführenden Worte zur wichtigsten Filmumfrage der Dekade: Alle zehn Jahre lädt das renommierte britische Filmmagazin „Sight & Sound“ ausgewählte Kritiker und Akademiker ein, den besten Film zu küren. Erstmals 1952, da siegte noch Vittorio De Sicas relativ rezenter „Fahrraddiebe“ (1948). Eine Dekade später wurde Orson Welles' Debüt „Citizen Kane“ (1941) an die Spitze gehievt – und blieb ein halbes Jahrhundert dort. Bis Mittwochabend, als die Ergebnisse der Umfrage 2012 zum Erscheinen des aktuellen Hefts online gestellt wurden (auf www.bfi.co.uk).

Nun führt Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958) die nicht ganz unbescheiden „The Top 50 Greatest Films of All Time“ betitelte Liste an, mit 191 Stimmen (846 Listen wurden ausgewertet). Ein klarer Sieg: für „Citizen Kane“ stimmten 157 Teilnehmer, Yasujirô Ozus drittplatzierte „Tokyo Story“ wählten 107. Das Ergebnis folgt einer kontinuierlichen Tendenz. Hitchcocks beim Erscheinen weder von Publikum noch Kritik sonderlich goutierter romantischer Thriller stieg 1982 auf Platz sieben in die Liste der besten zehn Filme ein – und jede Dekade weiter: über Platz vier und zwei auf den Spitzenrang. Die Geschichte einer sexuellen Obsession ist der Prototyp jener Art Film, der seither in Studienlehrgängen überpräsent ist. Und längst Inbegriff des „Kritikerlieblings“.

Als kanonisierter Kinoklassiker ist „Vertigo“ aber mit „Citizen Kane“ austauschbar: da ist der Wechsel an der Spitze nur symbolischer Natur. Alle Resultate sind für Kenner überhaupt überraschungsfrei. Das liegt auch im Wesen solcher Abstimmungen: heraus kommt Konsens. (Mehr Entdeckungsfreude versprechen die individuellen Listen, darunter des Verfassers dieser Zeilen: sie gehen Mitte August online.) Offenbar ist der etablierten Lesart der Filmgeschichte nicht zu entkommen: Seit 2002 stimmen parallel Regisseure ab, mit ähnlichen Resultaten (heuer: „Tokyo Story“ vor „Citizen Kane“). Als der „Sight & Sound Poll“ 1952 ins Leben gerufen wurde, war er ein erster Wegweiser auf einem unbeackerten Feld. Heute aber wuchern solche Listen, gerade im Netz, sind oft eher Marketing-Hilfen als ernsthafte Projekte.

So war die heurige Umfrage größer angelegt denn je, weil man die „Generation Internet“ zur Kenntnis nehmen wollte. Lustigerweise führte das nur zum Zuwachs bei Stummfilmen: drei unter den ersten Zehn („Sunrise“, „Der Mann mit der Kamera“, „Die Passion der Jeanne d'Arc“) – eine Gegenreaktion zum Hype um „The Artist“? Dafür gibt es kaum Neues: Der jüngste Top-Ten-Film ist von 1968 – Kubricks „2001“ (Platz sechs). In den Top 50 ist es David Lynchs „Mulholland Drive“ von 2001 (Platz 28). Als Zeitgeist-Orakel eine Bestätigung der nostalgisch-defätistischen These, dass die große Ära des Kinos vorbei ist? Freilich: Dasselbe folgerte man schon 1982, 1992 und 2002. Vielleicht müsste man sich doch eine andere Methode überlegen.

E-Mails an: christoph.huber@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2012)

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