Kaluga: Wie der Phönix aus der russischen Asche

Kaluga Phoenix russischen Asche
Kaluga Phoenix russischen Asche(c) AP (Natalia Kolesnikova)
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Das russische Gebiet Kaluga hat sich binnen fünf Jahren auf wundersame Weise am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und gilt heute als einer der attraktivsten Investitionsstandorte.

Im sommerlichen Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau, ist die Sonne derzeit ein wahrer Fixstern. Auch um halb zehn Uhr nachts hält sie sich über dem Horizont. Ganz so als ob sie Rache nimmt für die langen Winternächte, verschwindet sie gerade mal für ein paar wenige Stunden, um die Gegend gleich wieder höchstselbst auszuleuchten. Ist es nicht Rache, dann Betriebsamkeit. Genauso wie unten am Boden, wo Autobusse rund um die Uhr die Gegend durchqueren. Noch in einem Umkreis von 100 Kilometern sammeln sie Arbeiter ein, um sie in die Betriebe nahe der Stadt mit ihren 310.000 Einwohnern zu bringen. Allen voran in jenen des deutschen Autobauers VW. Dutzende von Gratis-Betriebstransportern hat er im Einsatz. „Mitunter habe ich den Eindruck, dass wir ein Transportunternehmen sind“, meint ein Manager vor Ort.

Der Aufschwung hat seine Begleiterscheinungen. Stechen sie ins Auge, dienen sie ihm umso mehr als Beweis. Seit im Jahr 2006 ein neuer Weg eingeschlagen wurde, geht die Post ab. Nicht nur VW hat 2007 ein Werk eröffnet und 2009 die Vollproduktion mit heute 6100 Mitarbeitern gestartet. Volvo und Renault montieren hier LKWs, die PSA-Gruppe PKWs. Das Magna-Werk ist die sichtbare Vorhut der im Aufbau begriffenen Zulieferindustrie. Und die Rohbauten von Pharmaziekonzernen künden bereits von einem zweiten Branchencluster. Seit 2007 wurden mit Investoren 66 Industrieprojekte vertraglich fixiert, 42 davon sind schon in Betrieb oder befinden sich in Bau.

Kaluga, das über keine Öllagerstätten verfügt, ist damit zur Vorzeigeregion geworden. Dabei hatte vor weniger als zehn Jahren nichts darauf hingedeutet. Dort wo nach dem Zweiten Weltkrieg das weltweit erste Atomkraftwerk Ruhm eingebracht hatte und bis 1991 fast nur fürs Militär produziert worden war, waren mit dem Ende der Sowjetunion alle Perspektiven verschwunden. Die neuen Besitzer hätten keine neue Produktion gestartet, erklärt Anatoly Artamonov im Gespräch: „Bis wir sie eines Tages fragten, was sie eigentlich hindere.“

Wir treffen Artamonov im Empfangsraum seiner Administration. Seit 2000 ist der heute 60-Jährige Gouverneur des Gebiets. Und so was wie ein nationaler Star. „Wissen Sie, was ich den Investoren als Erstes gebe?“, fragt er: „Die Handynummer.“

In einem Land, in dem Firmen unter der Willkür korrupter Beamter und gewaltsamen Raider-Attacken stöhnen, ist der direkte Draht nach oben unschätzbar wertvoll. Man müsse den Investor an der Hand nehmen und dankbar begleiten, erklärt Artamonov: „Früher haben mich Investoren noch öfter um Hilfe angerufen. Heute habe ich eher Journalisten am Apparat.“

Kaluga ist nicht die einzige Region, in der das Geschäftsklima deutlich besser ist als im Landesschnitt und die künftig für westliche Investoren immer wichtiger wird. Gewiss, das Gebiet, das mit erschlossenen Industrieflächen und Steuervorteilen lockt, sei nicht das Heilige Land und nicht gänzlich frei vom Nationalübel Korruption, erklärt ein westlicher Unternehmer: „Dennoch ist Kaluga das beste Gebiet für Investoren in Russland.“

Gewiss, ganz ohne die von Premier Wladimir Putin erzwungene Produktionsverlagerung für ausländische Autokonzerne wäre der Durchbruch vielleicht ausgeblieben. Und damit natürlich auch das sekundäre Leiden des Arbeitskräftemangels. Dass Dutzende Busse die Arbeiter in der Gegend einsammeln, ist nur der sichtbarste Teil des Wettkampfes. Der weniger sichtbare findet bei reizvollen Angeboten wie Gratisessen und vielen anderen Sozialleistungen statt, um Leute zu ködern und zu halten. Und um die direkten Lohnkosten nicht zu rasant steigen zu lassen. Mit durchschnittlich rund 600 Euro Lohn am Fließband gilt die Gegend, so wie Russland generell, nicht mehr als Billigproduktionsland. Zwar bestehen zwischen den Unternehmen mündliche Abkommen, Personal nicht gegenseitig abzuwerben. „Aber wer hält sich schon dran?“, kritisiert Valeri Gorlanov, Produktionschef von Samsung, das in Kaluga von 1600 Mitarbeitern LCD- und LED-Fernseher montieren lässt und selbst aus Moskau Arbeiter in Firmenbussen herankarrt. Ja, der Wettkampf ums Personal werde härter, sagt Vizegeneraldirektor Ju Cheul-Woo, der es Konstanz nennt, dass 40,9 Prozent der Belegschaft länger als ein Jahr im Werk sind. Gorlanov ist direkter: „Immer, wenn eine neue Firma hier eröffnet, haben die anderen Kopfweh.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2012)

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