Free Schach! Wie man mit John Cage spielt

John Cage
John Cage(c) AP (JULIA MALAKIE)
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Das Museum der Moderne auf dem Mönchsberg zeigt „John Cage und...“: der US-Komponist als Zentralfigur der Moderne im weitesten Sinn. Mit Zen und I-Ging, Tanz, Schach und einem zufällig bestückten Museum im Museum.

Am 29. August 1952, 17 Jahre vor dem „Festival For Peace And Music“, hatte in Woodstock das Stück „4'33''“ von John Cage Premiere, in dem nicht musiziert wird. Bei der Uraufführung spielte es ein Pianist in drei Sätzen, 33'', 2'40'' und 1'20'' lang; bei der nächsten Aufführung war die Unterteilung anders. „The movements may last any lengths of time“, beruhigte Cage. Wobei dieses Stück länger wird, wenn man es in Sätze teilt, schließlich müssen diese durch Pausen getrennt sein; und die sind vom Stück nicht zu unterscheiden, oder?

So, jetzt haben wir der bekanntesten – und von ihm selbst als Hauptwerk angesehenen – Komposition von John Cage auch noch einen kleinen paradoxen Gedanken entrungen, und darum geht es ja, das erklären uns Cage-Exegeten seit Jahrzehnten: Wir sollen „unsere Hörgewohnheiten hinterfragen“ und/oder in uns hineinhorchen, und zwar „ergebnisoffen“: Die Avantgarde liebte dieses Wort einst, heute gehört es den Managementberatern, das ist der Lauf der Dinge.

Zunächst also größte Freiheit – im ratlosen Schweigen. Die Wurzel aus einem Fragezeichen ergebe „silence“, schrieb Nam June Paik 1980 in Form einer Formel; und Christine Kubisch ließ 2011 in ihrer Installation „Silent Exercises“ das Wort für „Stille“ in 70 Sprachen murmeln; Tyler Adams filmte 2009 in „Performing Silence“ junge Musiker beim Nichtspielen. Vor solche Meditationsübungen gestellt wird man auf der untersten Ebene der drei Ebenen umfassenden Ausstellung „John Cage und . . .“. Man kann „na und“ statt „und“ sagen, man kann sich verweigern, auch das ist möglicher Teil des Spiels.

Ein „giftiger Pilz“ von Marcel Duchamp

Welchen Spiels? Zunächst des Spiels, das in allen Kunstformen des 20. Jahrhunderts gespielt wurde, im Jazz und im Roman, im Theater und in der E-Musik, im Tanz und in der Malerei: des Spiels der Befreiung von Regeln – und damit von Formen, die durch diese Regeln erzeugt werden. Trotzdem oder gerade deshalb pflegte die Kunst der Moderne eine Obsession für das strikt regulierte Schachspiel – und für die Idee, dieses doch von den Regeln zu befreien, in der Literatur etwa in Samuel Becketts „Murphy“ (wo vor dem finalen Brand ein Irrer mit seinem Wärter spielt) oder Wolfgang Bauers „Gespenster“, wo „Free Schach“ angesagt ist.

Auch Marcel Duchamp war von Schach begeistert, schrieb Bücher darüber. Eines schenkte er Cage mit der Widmung: „Lieber John, Vorsicht! Noch ein giftiger Pilz mehr.“ Wie so oft in einschlägigen Ausstellungen zieht ein schlichtes, naives Werk von Yoko Ono einen am meisten in den Bann: Das „White Chess Set“ (1966) enthält nur weiße Figuren und zwar nur Türme und Bauern.

Dieses Brett schreit: Was soll man hier spielen? Es erzeugt das Gefühl der Leere, das Obelix in „Asterix und der Kupferkessel“ so genial ausdrückt, als er als Laienschauspieler in einer römischen freien Theatergruppe aufgefordert wird, spontan zu sagen, was ihm durch den Kopf geht: „Mir geht aber manchmal nichts durch den Kopf!“

Damit wären wir schon ziemlich nahe am Zen, jener fernöstlichen Weisheitslehre, die auch eine Weisheitsleere ist, weil sie nicht mit gültigen Weisheiten dienen kann und will. John Cage und viele Gleichgesinnte schwärmten in den Sechzigern von Zen, genauso wie für das chinesische Orakel I-Ging, nach dem ja auch die Hippies, diese Wegbereiter der Esoterik, ganz verrückt waren. Nam June Paik, immer so zeitgeistig wie medial, schuf sowohl ein „I-Ging-TV“ als auch „Zen For TV“.

Das Reizvolle am I-Ging (wie an allen Orakeln) ist, dass es den Zufall ins Spiel nimmt, aber mit der Illusion, er sei nicht sinnlos, sondern sinnstiftend. (Also im Grunde das, was man im Abendland „Schicksal“ nennt.) Viele Werke von John Cage verwenden den Zufall, etwa der „Museumscircle“, bei dem fast alle Salzburger Museen mitmachen und zufällig Exponate schicken, was z. B. ergab, dass ein Jagupard (eine Kreuzung zwischen Jaguar und Leopard), ein Schmerzensmann und ein Mozart am Klavier sich in einem Raum finden.

Auch Cages einziger Film „One“, für den eine Kamera von einem Kran bewegt wurde, den ein Zufallsgenerator steuert, ist ein garantiert nicht mit Sinn ausgestattetes 90-minütiges Lichtspiel. Kulinarischer, bekannter und nicht rein zufällig ist „33 1/3“, wo die Besucher zwölf Plattenspieler ad libitum mit Platten belegen dürfen. In Salzburg ist diese Installation gescheitert, weil grobe Besucher die Plattenspieler beschädigt haben. Gut, weil ohne Publikumsbeteiligung funktioniert der „Mozart-Mix“, halt mit fünf CD-Spielern statt fünf Kassettenrekordern, die verschiedene Mozart-Stücke gleichzeitig abspielen, was irgendwie weh tut, ob man Mozart mag oder nicht. Am witzigsten ist vielleicht „Lobbing Potatoes At A Gong“ (1969) von Rodney Graham: Erdäpfel wurden auf einen Gong geschossen, die den Gong trafen, wurden zu Wodka verarbeitet, somit ist eine Flasche Wodka (neben dem Video) das materielle Resultat der Installation.

Partituren wie DNA-Fäden

Viel Fläche in der Ausstellung gilt den Partituren, die John Cage schrieb. Sie lassen den Interpreten bekanntlich sehr viel, wenn nicht alle Freiheit; und ihre Ästhetik ist ganz bewusst nicht nur die Ästhetik der Musik, die sie kodieren. Eine Zeit lang sahen Cages Partituren aus wie Knäuel, heute denkt man automatisch an die DNA, die ja auch ein eindimensionaler Faden ist, der ein vierdimensionales Geschehen prägt, diesfalls ein Leben.

Apropos Leben: Ein lebendiger (und nicht ergebnisoffener) Einwurf in all die Unbestimmtheiten der Schau ist „Solo“ von Christian Marclay: Eine Frau zeigt ihre Liebe zur elektrischen Gitarre körperlich. Dieses Video ist auch ein Beitrag zur alten Frage, ob und wie man eine Grenze zwischen Pornografie und Kunst ziehen kann. Es ist beides, dazu ein ernstes Spiel und eine Parodie (auf Gitarrenexzesse à la Hendrix). Und es dauert nicht nur vier Minuten und 33 Sekunden. Was natürlich ein guter Zufall wäre.

100. Geburtstag am 5. 9. John Cage wurde 1912 in Los Angeles geboren, er starb 1992 in New York. Er studierte Komposition u. a. bei Schönberg, dem er versprechen musste, Komponist zu werden. Er wurde es, dazu Maler und Pilzforscher. Mit seinem Freund, dem Tänzer Merce Cunningham, gestaltete er etliche Tanzproduktionen, denen die Salzburger Ausstellung viel Raum widmet. Diese läuft bis 7. 10., am 5. 9. wird Cages Geburtstag gefeiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2012)

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