Prüfbericht. Brüssel war bewusst, dass Athen jahrelang seine Budgetzahlen frisierte.
Brüssel. Die europäische Schuldenkrise hat viele Gründe, aber einen Auslöser: das öffentliche Eingeständnis der griechischen Regierung im Herbst 2009, wonach das Budgetdefizit in besagtem Jahr nicht 3,7 Prozent, sondern 12,7 Prozent betragen hat (nach etlichen weiteren Korrekturen waren es letztlich 15,4 Prozent). Dass die amtlichen griechischen Budgetzahlen derart fern der Wirklichkeit waren und das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Eurogebietes erschütterten, dafür war zu einem Gutteil auch die Europäische Kommission verantwortlich. Das zeigt ein neuer Prüfbericht, den der Europäische Rechnungshof am Freitag vorgelegt hat.
Der Hof stellt darin fest, dass der „Verhaltenskodex für europäische Statistiken nur in Teilen umgesetzt wurde“ – und zwar sowohl von zahlreichen nationalen Regierungen als auch von der Kommission selbst. Die vollständige Umsetzung dieser Regeln für nationale Statistikämter sei noch immer „auch auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten eine Herausforderung“. Wenn man weiß, dass die Endberichte des Rechnungshofes stets mit Rücksicht auf politische Sensibilitäten in den Mitgliedstaaten viel an der Schärfe ihrer Rohfassungen verlieren, kann man sich ausmalen, wie es drei Jahre nach dem großen Knall noch immer um manche nationale Budgetstatistik aussieht. Dabei geht es, wohlgemerkt, um selbstverständlich anmutende Regeln wie jene, dass die Mitarbeiter von Statistikinstituten politisch unabhängig sein und ihre Arbeit die Realität „genau und zuverlässig“ wiedergeben sollen.
Aus Schaden nicht klug geworden
Dabei wurde dieser Kodex von Regeln schon als Reaktion auf jahrelange griechische Betrügereien gefasst. Im Juni 2004 beschlossen ihn die Staats- und Regierungschefs, nachdem offenbar geworden war, dass griechische Regierungen in den Jahren vor der Euro-Einführung ihre Haushaltszahlen frisiert hatten. Nach einer Revision stellte sich heraus, dass Griechenland in jedem Jahr vor seinem Beitritt zum Euro ein Defizit von mehr als drei Prozent hatte und damit ein zentrales Maastricht-Kriterium nicht erfüllte.
„Sehr gut funktioniert“
Doch aus diesem Schaden wurde die Kommission nicht klüger. Im Oktober 2008 hielt sie nach einer gegenseitigen Überprüfung der nationalen Statistikämter zufrieden fest, „dass der selbstregulierende Ansatz sehr gut funktioniert“. Sie erklärte zudem, dass „die Unabhängigkeit von politischen und sonstigen externen Einflussnahmen bei Produktion und Verbreitung von europäischen Statistiken sowie eine objektive Wahl von Methoden, Quellen und Techniken gewährleistet zu sein“ scheint – und zwar überall in der EU und ihren Mitgliedstaaten.
Etwas mehr als ein Jahr später musste die Kommission kleinlaut bekannt geben, dass es doch größere Probleme gibt. Da war die Eurokrise bereits ausgebrochen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2012)