Vorwurf der Zwangssterilisation: Tirolerin erwägt Klage

Vorwurf Zwangssterilisation 34jaehrige Tirolerin
Vorwurf Zwangssterilisation 34jaehrige Tirolerin(c) ORF (Milenko Badzic)
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Eine heute 34-Jährige Tirolerin soll 2009 genötigt worden sein, eine Einverständniserklärung zur Sterilisation zu unterschreiben. Die Lebenshilfe Tirol weist die Vorwürfe zurück.

Wien/Cim. Fälle wie diese erinnern an die Zeit der NS-Medizin. Und doch dürfte die Sterilisation geistig beeinträchtigter Frauen vor 15 Jahren noch gängig gewesen sein. In Einzelfällen möglicherweise sogar später. Eine 34-jährige Tirolerin wirft ihren Betreuern vor, sie sei im Jahr 2009 zwangssterilisiert worden.

Ihr sei eine Einverständniserklärung vorgelegt worden, die sie nicht lesen habe dürfen. Sie habe gesagt, sie wolle nicht unterschreiben. „Und der Doktor hat gesagt, ich muss unterschreiben, sonst flieg ich von der Lebenshilfe raus“, so die Frau im ORF-Radio. Die Frau, die ohne Schilddrüse geboren wurde und aufgrund traumatischer Erlebnisse in der Kindheit als behindert gilt, erwägt nun, mit Unterstützung ihrer Sachwalterin zu klagen. Da sie und ihr Partner sich ein Kind wünschen, will sie versuchen, die Sterilisation rückgängig machen zu lassen.

Oliver Gosolits, der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol, weist die Vorwürfe zurück. Die Frau sei damals nicht besachwaltet gewesen, habe in ihrer eigenen Wohnung gelebt und sei von der Lebenshilfe nur punktuell betreut worden. Aus einem psychiatrischen Gutachten gehe ihr Einverständnis zur Sterilisation hervor. Gosolits erinnert daran, dass sich die Lebenshilfe seit den 1990er-Jahren klar gegen Sterilisationen ausspreche.

Sterilisation? „Das liegt alles im Dunklen“

Vor der Gesetzesänderung im Jahr 2001 dürften solche Fälle alltäglich gewesen sein. Zahlen, wie viele Frauen in Österreich von Zwangssterilisationen betroffen sind, liegen nicht vor. „Das liegt alles im Dunklen. Schätzungen gehen davon aus, dass bis 2001 bis zu 50 Prozent aller Frauen mit geistiger Behinderung ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen sterilisiert wurden“, sagt der Tiroler Behindertenrechtsexperte Volker Schönwiese. Der Kinderpsychiater Ernst Berger berichtete jüngst etwa von als Blinddarmoperationen getarnten Sterilisationen, zu denen Ärzte und Betreuer Eltern vor 2001 gedrängt hätten. Besonders Andreas Rett, der bekannte Wiener Psychiater, der für die Sterilisation von behinderten Frauen eintrat, soll die generelle Sterilisation von Frauen mit einem Intelligenzquotienten von weniger als 85 Punkten befürwortet haben.

„Früher war das bei Frauen mit Behinderung häufig“, sagt Schönwiese, „heute ist Sterilisation ein Graubereich.“ Gesetzlich ist eine solche bei Jugendlichen so gut wie ausgeschlossen, auch bei Erwachsenen nur mit Zustimmung der Betroffenen möglich. „Möglich ist, das informelle Wege gefunden werden“, sagt Schönwiese. Geschichten wie jene der Tirolerin würden immer wieder kursieren, aber die Frauen seien von Betreuungseinrichtungen abhängig, würden sich nicht trauen, offen zu sprechen. Nach heutigem Recht ist Zwangssterilisation als Körperverletzung mit schweren Dauerfolgen zu ahnden, es drohen Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Verjährungsfrist: fünf Jahre.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2012)

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