"Es gibt immer mehr Anzeichen für eine Spaltung des Regimes"

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gibt immer mehr Anzeichen(c) REUTERS (STRINGER)
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Der Aktivist Michel Kilo sieht Risse in Assads Machtbasis. Die Türkei werde Druck in Nordsyrien aufbauen. Die Türkei hat ausreichende Abschreckungskraft.

Die Presse: Sind die jüngsten türkischen Militäroperationen im syrischen Grenzgebiet der Auftakt zu einer Intervention in Syrien?

Michel Kilo: Nein, nicht unbedingt. Es könnte aber der Beginn einer längeren Zeit von Zusammenstößen zwischen der türkischen und der syrischen Armee sein. Die Situation wird weiter angeheizt werden.

Ist das ein geplantes Anheizen des Konflikts, oder war der Einschlag der syrischen Granate ein Unfall, der jetzt zu einer Eskalation führt?

Die Türken haben die ganze Zeit über gesagt, dass sie die Auswirkungen der syrischen Krise nicht länger ertragen können. Und die jüngsten Entwicklungen geben der Türkei jetzt die Gelegenheit, eine stärkere Rolle im Norden Syriens zu spielen. Davor hat Damaskus Angst. Aber zugleich könnte Syriens Regime ein Interesse daran haben, den Konflikt auszuweiten.

Wie passt das zusammen?

Die syrische Armee besitzt nicht genügend Kraft für eine direkte Konfrontation mit der türkischen Armee. Aber vielleicht hat Syriens Machthaber Bashar al-Assad etwas anderes in seinem Kopf: Vielleicht baut er darauf, dass eine stärkere Rolle der Türkei in der Region den Iran alarmieren wird. Und dass die Iraner ihn dann stärker unterstützen.

Und was genau plant die Türkei? Plant sie mittel- bis langfristig eine Intervention?

Die Türkei hat ausreichende Abschreckungskraft, um Syriens Armee im Norden Syriens in Schach zu halten. Die Türken könnten sagen: Wir erlauben nicht, dass Syriens Luftwaffe Aleppo bombardiert oder die Artillerie Grenzdörfer beschießt. Die syrische Armee hat zuletzt die Dörfer an der türkischen Grenze in Brand gesteckt. Die Lage in Aleppo ist sehr schwierig für die syrischen Streitkräfte geworden. Die Moral in der Truppe ist sehr niedrig. Aleppo ist nur 20 Kilometer von der Türkei entfernt und die Wege sind offen. Wenn Ankara Waffen schicken will, kann es das tun.

Sie haben sich immer wieder gegen eine ausländische Intervention in Syrien ausgesprochen. Was halten Sie dann von dieser Abschreckungsrolle der Türkei?

Ich glaube, dass es irgendwann dazu kommen musste. Die Türken haben immer wieder davor gewarnt, dass sie nicht länger stillhalten können. In der Türkei gibt es Kurden und Alawiten, so wie in Syrien. Das Regime in Damaskus versucht, einige syrische Kurden gegen die Türkei einzusetzen. Und Alawiten syrischer Abstammung in der Südtürkei sind auf die Straße gegangen und haben Flüchtlinge aus Syrien vertrieben.

Könnte das türkische Engagement die Vorstufe einer Nato-Intervention sein?

Das glaube ich nicht. Die Türkei kann das allein machen, wenn die Nato eine türkische Militärmission in Syrien absegnet.

Sie haben immer eine politische Lösung des Konflikts gefordert. Aber wie soll das angesichts der verfahrenen Situation noch möglich sein?

In der jetzigen Situation gibt es dafür keine Möglichkeit. Man muss diese Durststrecke jetzt mit Vorschlägen und Konferenzen überbrücken, bis tatsächlich Bedingungen da sind, um eine Lösung zu finden, die Syrien befrieden wird.

Aber läuft nicht alles darauf hinaus, dass – so wie in Libyen – eine der beiden Seiten militärisch siegen muss, um das Ganze zu beenden?

So schaut es derzeit aus. Aber wenn die internationale Gemeinschaft die Ergebnisse ihrer Konferenz in Genf im Juni ernst nimmt und Syrien zu einem Übergang zur Demokratie verhelfen will, dann wird nach einiger Zeit ein Flügel innerhalb des Regimes mit Assad brechen und in Verhandlungen eintreten.

Bisher schien Assad aber fest im Sattel zu sitzen – vor allem bei der Minderheit der Alawiten, der auch er angehört.

Es gibt bereits viele Anzeichen für eine Spaltung. Vor einigen Tagen kam es in Qardaha innerhalb der Alawiten zu militärischen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Assads. Die größten alawitischen Familien in Qardaha sagten zuvor einem Verwandten Assads: Wir wollen nicht vernichtet werden, damit dein Verwandter Präsident bleibt. Die Alawiten haben viele Toten zu beklagen, zu viele für eine kleine Minderheit. Die Alawiten stellen mittlerweile viele Fragen, auf die das Regime keine Antworten hat. Das Regime kann nicht so weitermachen.

Bisher hatte Assad bei den Alawiten, aber auch bei den Christen Unterstützung, weil die Minderheiten Angst vor militanten Islamisten unter den Rebellen hatten. Sind diese Ängste nun weg?

Diese Ängste sind nicht weg, aber sie sind zurückgedrängt worden. Weil die Menschen nicht mehr davon überzeugt sind, dass das Regime gewinnt. Sie müssen ihre Position ändern, damit sie für sich selbst Lösungen finden können. Sie wissen, dass von dieser Regierung keine Lösung mehr kommen wird. Die intellektuelle Elite der Alawiten und Christen war von Anfang an gegen das Regime. Viele andere Christen und auch die Kirchen waren für Assad. Aber das hat sich jetzt geändert. Zu Beginn der Revolution waren 70 Prozent der Christen für die Herrschenden und 30 Prozent dagegen. Jetzt ist es 50 zu 50. Dabei hat sich das Regime zuletzt Mühe dabei gegeben, die Christen in einigen Teilen des Landes zu bewaffnen.

Zur Person

Michel Kilo ist Christ und Mitglied des „Syrischen Demokratischen Forums“. Der linke Aktivist war in Syrien mehrere Jahre in Haft. Er ist auf Einladung des Österreichisch-Arabischen Kulturzentrums und der Plattform gegen Krieg und Intervention in Wien. [Jenis]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2012)

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