Ägyptens islamistische Parteien drängen die Bevölkerung, beim Verfassungsreferendum mit Ja zu stimmen. Der Zulauf ist ihnen in dem Armenviertel sicher.
Kairo/Gaw. Im Armenviertel Schubra-El-Kheima im Norden der ägyptischen Hauptstadt Kairo herrscht das übliche Chaos. Autos hupen, während von irgendwo der neuste ägyptische Hit aus einem voll aufgedrehten Radio dröhnt. Aus einem übersteuerten Lautsprecher dröhnt die Stimme von Usama El-Fikri, Mitglied der salafistischen El-Nour-Partei. Er wandelt den Slogan der ägyptischen Revolution „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ ab und gibt ihm noch eine weitere Zutat: „Wir wollen Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und die Scharia.“
Die Salafisten und auch die Muslimbrüder werben in Schubra El-Kheima für ein Ja zum Verfassungsentwurf, über den Samstag, abgestimmt werden soll. Der Zulauf ist ihnen in dem Armenviertel sicher, wo sie seit Jahren Präsenz zeigen. Ägyptens Liberale, die gegen den Verfassungsentwurf sind, haben hier keine Chance.
Viel Platz für Interpretation
Eigentlich wollten die Salafisten, dass die „Regeln der Scharia“ die Grundlage aller ägyptischen Gesetze darstellen sollen. Im neuen Verfassungsentwurf ist jedoch nur von den „Prinzipien der Scharia“ die Rede – so wie schon in der Verfassung unter dem gestürzten Machthaber Hosni Mubarak. Der neue Entwurf hat aber einen Artikel hinzugefügt, der die Prinzipien der Scharia nun definieren soll. „Die Scharia beinhaltet ihre generellen Angaben, ihre rechtswissenschaftliche Grundlage und deren anerkannte Quellen der sunnitischen Rechtsschulen“, heißt es dort. Ein etwas verwirrender Artikel, der Parlamentariern die Möglichkeit geben könnte, Teile der islamischen Rechtsprechung in Gesetzen zu kodifizieren, und Richtern die Handhabe, bei ihren Urteilen mit der Scharia zu argumentieren.
Wie bei vielen anderen teils widersprüchlichen Artikeln des Verfassungsentwurfes wird es darauf ankommen, wer ihn interpretiert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2012)