Der ökonomische Blick

Europa verschwendet im Wettlauf um Technologien viel Potenzial

Zusammenhalt und der Abbau von wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den europäischen Regionen stellen ein Kernziel des europäischen Projekts dar. Es gibt jedoch Verbesserungspotenzial.
Zusammenhalt und der Abbau von wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den europäischen Regionen stellen ein Kernziel des europäischen Projekts dar. Es gibt jedoch Verbesserungspotenzial.AFP/KENZO TRIBOUILLARD
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Aktuell ist die Entwicklung grüner und digitaler Technologien stark in den wirtschaftlich stärksten Regionen der EU konzentriert. Keine Region verfügt über alle dafür notwendigen Fähigkeiten. Was ist zu tun, um den Zusammenhalt in Europa zu stärken?

Zusammenhalt und der Abbau von wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den europäischen Regionen stellen ein Kernziel des europäischen Projekts dar. Der grüne und digitale Wandel bringt dabei große Herausforderungen mit sich. In unserer neuen Studie vermessen wir das ungenutzte Potenzial für Tech-Kooperationen. Mehr Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg würde sowohl den grünen und digitalen Wandel beflügeln als auch den Zusammenhalt in Europa stärken.

Aktuell ist die Entwicklung grüner und digitaler Technologien stark in den wirtschaftlich stärksten Regionen der EU konzentriert. Mehr als 80 Prozent der entsprechenden Patentanmeldungen erfolgen in Regionen, die in Bezug auf Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand bereits heute deutlich vorne liegen.

Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse"-Redaktion entsprechen.

Regionen wie Wien, Oberbayern oder Île-de-France könnten zukünftig noch mehr gewinnen, da sie die größten Potenziale in hochkomplexen grünen und digitalen Technologien aufweisen. Damit ist es am wahrscheinlichsten, dass diese Regionen neue Lösungen im Bereich Künstliche Intelligenz, Big Data oder Cybersecurity entwickeln. Technologische Fortschritte in diesen Bereichen schaffen aufgrund ihrer Komplexität einen Wettbewerbsvorteil und damit hohe ökonomische Renditen.

Deutlich anders sieht die Situation für weniger prosperierende Regionen etwa in Süd- und Osteuropa aus: Sie haben bisher kaum für den grünen und digitalen Wandel relevante Technologien entwickelt. Ihr Potenzial findet sich in weniger komplexen, weil weit verbreiteteren, Technologien wie Bioziden, Biodünger oder der Speicherung von Treibhausgasen. Während diese Technologien wichtig für den grünen Wandel sind, bringen sie den jeweiligen Regionen keinen ökonomischen Wettbewerbsvorteil. Damit laufen diese Regionen Gefahr, erneut zurückzubleiben.

Zusammenarbeit zahlt sich aus

Die Entwicklung von komplexen Technologien erfordert eine Vielzahl von unterschiedlichen Fähigkeiten. Keine Region – auch nicht die wirtschaftliche stärkste ‑ verfügt über alle notwendigen Fähigkeiten zur Entwicklung wichtiger Technologien zur Unterstützung des grünen und digitalen Wandels.

Regionen können sich aber zusammentun und komplementäre Fähigkeiten kombinieren, um die technologische Entwicklung voranzutreiben. Eine Sichtung der aktuellen Tech-Kooperationen scheint dabei auf den ersten Blick enttäuschend: Die europäischen Regionen kooperieren nur wenig – und wenn, dann meist innerhalb nationaler Grenzen. Ein großer Teil der Forschungsaktivitäten in Europa bleibt damit auf nationaler Ebene organisiert. Dies spiegelt eine geringe EU-weite Koordination der Forschungs- und Innovationspolitik wider.

In einem nächsten Schritt analysieren wir die potenziellen Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zur Entwicklung von grünen und digitalen Technologien zwischen europäischen Regionen auf Basis ihrer individuellen Fähigkeiten. Wir finden für alle Regionen – oftmals enorm – großes Potenzial. Dieses wird aktuell nur zu einem Bruchteil ausgeschöpft, insbesondere was Kooperationen über Landesgrenzen hinweg betrifft.

In unserer Studie zeigen wir, dass auch wirtschaftlich schwächere Regionen am verstärkten Fokus auf grüne und digitale Technologien partizipieren könnten. Wir identifizieren einige „hidden champions“ in dieser Gruppe von Regionen, die bereits jetzt wesentlichen Patentoutput in diesen Bereichen aufweisen bzw. über relevante Fähigkeiten verfügen, die sie mit anderen Regionen teilen können. Würden diese Regionen verstärkt mit anderen – insbesondere auch anderen schwächeren – Regionen mit komplementären Fähigkeiten zusammenarbeiten, könnten sie maßgeblich zu innovativen Lösungen für den grünen und digitalen Wandel beitragen. Europa als Ganzes würde dabei von mehr technischem Fortschritt und gleichzeitig weniger Wohlstandsgefälle profitieren.

Was ist zu tun?

Die gezielte Förderung interregionaler Kooperationen zur Entwicklung von grünen und digitalen Technologien ist ein Weg, den Zusammenhalt in Europa zu stärken. Dabei sollten insbesondere die Potenziale schwächerer Regionen genutzt werden, um zur ökonomischen Kohäsion der europäischen Regionen beizutragen. Politische Entscheidungsträger:innen müssen dafür die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.

Die Verbesserung von Rahmenbedingungen ist eine Aufgabe, an der die politischen Entscheidungsträger der EU beteiligt sind, die sie aber nicht allein bewältigen können. Brüssel kann den Ausbau interregionaler Zusammenarbeit forcieren und es etwa für multinationale Unternehmen attraktiver machen, in Europas Regionen zu investieren. Nationale Regierungen und regionale Behörden sollten Unternehmen stärker unterstützen, neue Kooperationspartner auch abseits des eigenen Tellerrands zu finden.

Die Autor:innen

Julia Bachtrögler-Unger ist Ökonomin am WIFO, spezialisiert in Regionalökonomie mit einem Schwerpunkt auf die Evaluierung der Kohäsionspolitik. Sie ist Mitglied des österreichischen Produktivitätsrats.

Pierre-Alexandre Balland ist Professor an der Universität Utrecht. Seine Forschung konzentriert sich auf komplexe Systeme, die Zukunft von Städten und Künstliche Intelligenz. Er berät aktuell die EU-Kommission zu Innovationspolitik.

Ron Boschma ist Professor an den Universität Utrecht und Stavanger. Er konzentriert sich auf evolutionäre Wirtschaftsgeografie, regionale Innovationssysteme und regionales Wachstum. Er bringt sein Fachwissen in zahlreichen Expertengremien der EU-Kommission ein.

Thomas Schwab ist Ökonom bei der Bertelsmann Stiftung, spezialisiert auf europäische Wirtschaftspolitik mit Schwerpunkt Kohäsionspolitik.

(v.l.n.r.) Julia Bachtrögler-Unger, Ron Boschma, Pierre-Alex Balland und Thomas Schwab.
(v.l.n.r.) Julia Bachtrögler-Unger, Ron Boschma, Pierre-Alex Balland und Thomas Schwab.Philippe Veldeman Photographer

Literaturhinweise

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