Interview

Ökonomin Movchan: „Glaube an kein freundliches Russland“

Der Wiederaufbau der Ukraine muss mit den Menschen gelingen, die in der Ukraine geblieben sind oder zurückkehren, sagt Ökonomin Veronika Movchan.
Der Wiederaufbau der Ukraine muss mit den Menschen gelingen, die in der Ukraine geblieben sind oder zurückkehren, sagt Ökonomin Veronika Movchan.Caio Kauffmann
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Ohne Jets kein Aufbau der Ukraine, sagt Veronika Movchan. Ein Gespräch über Chinas schlechtes Timing, verminte Äcker und Flüchtlinge, die in der EU bleiben.

Die Ukraine will zur EU. Schon jetzt wurde freier Zugang zum Binnenmarkt gegeben. Wie sehr hilft das Ihrem Land?

Veronika Movchan: Man vergisst gern, dass schon 2014 der Handel zwischen der Ukraine und der EU liberalisiert wurde. Damals wurde ein großer Teil der europäischen Zölle auf ukrainische Einfuhren abgeschafft. Für manche Produkte wurden Zollkontingente eingeführt. Das bedeutet, dass eine bestimmte Menge zollfrei gehandelt werden kann. 2022 wurden diese Zollkontingente etwa auf Agrarprodukte abgeschafft.

Aber wie hat sich die Maßnahme ausgewirkt?

Es ist nicht richtig, wenn man jetzt von einer massiven Liberalisierung spricht. Aber natürlich war es wichtig, den EU-Markt noch weiter für ukrainische Produkte zu öffnen. Die ukrainischen Exporte in die EU sind trotz der Eskalation im Konflikt mit Russland gewachsen, vor allem im Agrarbereich. Aber auch global gesehen lag der politische Fokus von Anfang an auf der Sicherung der Agrarexporte. Deshalb gibt es ein Getreideabkommen und kein Metallabkommen. Das ist der Hauptgrund, weshalb aktuell rund zwei Drittel der ukrainischen Exporte auf Agrarprodukte entfallen. Die Welt braucht die ukrainischen Agrarerzeugnisse wie Weizen oder Mais. Und die Ukraine braucht Geld.

Wie viel Getreide kann die Ukraine aktuell überhaupt produzieren und exportieren?

Es gab große Aussaatkampagnen, aber laut Schätzungen hat die Ukraine ungefähr ein Fünftel seiner Agrarflächen verloren. Rund zehn Prozent der Agrarfläche sind stark vermint. Bei Metallen, wo die Ukraine in der Vergangenheit ebenfalls ein wichtiger Exporteur war, hat das Land 40 Prozent seiner Produktionskapazitäten verloren. Wir alle kennen das Schicksal der Stadt Mariupol und des dortigen Stahlwerks Azovstal.

Welche Sektoren lassen sich im Fall eines Waffenstillstands oder vielleicht sogar Friedens schneller wieder hochfahren?

Vermutlich lässt sich die Agrarproduktion schneller wieder hochfahren als die Metallproduktion. Auch, weil sie in weiten Teilen des Landes nie zum Erliegen gekommen ist. Aber beide Sektoren sind sehr kapitalintensiv. Die Höfe in der Ukraine sind riesig. Eine durchschnittliche Länderei ist viele tausend Hektar groß.

In Österreich lag die durchschnittliche Betriebsgröße 2020 bei weniger als 45 Hektar.

Wir haben in der Ukraine eine ganz andere Betriebsstruktur. Die ukrainischen Bauern verwenden Hightechgeräte, um ihre riesigen Ländereien zu bewirtschaften, sie verwenden hocheffizientes Saatgut, Düngemittel und Pestizide. In manchen Teilen des Landes sind auch aufwendige Bewässerungsanlagen notwendig. Das bedeutet, dass Sie die Agrarproduktion nicht von heute auf morgen wieder ausweiten können, wenn Geräte oder Inputs fehlen.

Haben ukrainische Bauern mit den massiven Preissteigerungen etwa bei Weizen gut verdient?

Die ukrainischen Bauern hatten nichts von den hohen Preisen. Die Transportkosten und Risikoaufschläge waren so hoch, dass letztlich vor allem Player in Europa profitiert haben. Auch deshalb fehlt der Branche aktuell das finanzielle Polster, das sie vor der Invasion noch hatte. Es ist wichtig, den ukrainischen Bauern finanziell zu helfen.

Passiert das auch?

Nicht genug. Die Ukraine muss einen Krieg finanzieren. Das Land erhält Waffen und finanzielle Unterstützung, um Beamte und Sozialleistungen zu zahlen. Aber die Ukraine muss ja auch Soldaten, Veteranen und Hinterbliebene bezahlen.

Sie verwenden übrigens das Wort „Krieg“ sehr vorsichtig.

Ich bin schockiert, wenn Menschen glauben, dass 2022 plötzlich ein Krieg ausgebrochen sei. Wir sind seit 2014 im Krieg, im Vorjahr ist er eskaliert.

Sehen Sie ein Risiko, dass die Zentralbank die Notenpresse anwerfen und die Währung stark abwerten wird?

Im Vorjahr wurde Geld gedruckt. Aber Geldgeber wie der Internationale Währungsfonds machen zur Bedingung, dass die Notenpresse nicht angeworfen wird. Die Inflation lag 2022 bei ungefähr 20 Prozent und damit nicht viel höher als in manchen EU-Mitgliedern.

Wie ist das Verhältnis zwischen der Ukraine und China aktuell?

Die EU ist der wichtigste Handelspartner. Nimmt man einzelne Länder, hat unlängst China die zwei wichtigsten Exportmärkte, Polen und Russland, überholt. Aber wegen der Lieferkettenprobleme in der Covid-Zeit nur kurzfristig. China hat zudem vor allem Metalle importiert. Als Investor spielt das Land eine untergeordnete Rolle. Auch, weil das Timing Chinas unglücklich war. Man wollte sich Land sichern und hat kurz vor seiner Absetzung mit Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch verhandelt. Später wollte China etwas auf der Krim kaufen, dann kam die Annexion durch Russland. China versucht weiterhin, einen Fuß in die Ukraine zu bekommen, aber das Image Chinas leidet unter der Nähe zu Russland und Chinas fragwürdigen Friedensinitiativen.

Rückt die Ukraine für China damit wirtschaftspolitisch vorerst in den Hintergrund?

Das glaube ich nicht. Man wird weiter versuchen, mit der Ukraine Geschäfte zu machen. China ist beispielsweise groß im Geschäft mit seltenen Erden, und die Ukraine verfügt über seltene Erden. Allerdings entsteht wenig Wertschöpfung im Land, wenn China hier investiert. Wenn China beispielsweise eine Brücke oder eine Eisenbahnstrecke in einem anderen Land baut, bringt es seine eigenen Leute und seine eigenen Baustoffe mit. Sie bekommen von China eine fix und fertige Brücke, aber Ihre Unternehmen bauen nicht mit.

Wird noch mit Russland gehandelt?

Nein.

Aber der Gas-Transit passiert noch . . .

. . . und Russland bezahlt sogar dafür. Die Ukraine hat schon vor der Eskalation damit begonnen, den Handel mit Russland in mehreren Bereichen zurückzufahren. Die Ukraine stellt zum Beispiel ihre Kernkraftwerke schon seit einiger Zeit von russischer auf amerikanische Technologie um und kauft schon länger keine Brennstäbe mehr von Russland.

Was muss auf dem Schlachtfeld passieren, damit die Ukraine wirtschaftlich wieder wachsen kann?

Wir können nur beten oder hoffen, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld Erfolg hat. Ich wünsche mir, dass die ukrainischen Streitkräfte extrem erfolgreich sind. Wahrscheinlich ist, dass sich die Kämpfe bis mindestens in den späten Herbst ziehen. Und selbst wenn wir alle russischen Soldaten aus der Ukraine vertreiben, kann Russland weiterhin Raketen einsetzen. Die Frage ist: Wie können wir Russland dazu bringen, uns nicht mehr zu beschießen? Wir brauchen Kampfjets, um unseren Luftraum zu sichern. Ich glaube nicht an ein freundliches Russland.

Ohne Sicherheit kein Wachstum?

Nach dem Einbruch im Vorjahr hat sich die ukrainische Wirtschaft recht gut stabilisiert, im Westen wird auch zum Teil investiert. Infrastruktur wird erneuert. Fahrt aufnehmen kann der Aufbau erst, wenn die Sicherheitsfrage gelöst ist. Wichtig sind auch Versicherungsfragen. Wenn sich Sicherheitsrisiken versichern lassen, wird eher investiert.

Der Ukraine fehlen aktuell aber auch Millionen Arbeitskräfte, die in die EU geflüchtet sind . . .

. . . und viele werden auch dort bleiben. Kinder gehen dort zur Schule, viele haben gute Jobs gefunden. Wenn Männer wieder ausreisen dürfen, wird es Familiennachzug geben. Die EU leidet selbst unter Fachkräftemangel und wird vermutlich auch daran interessiert sein, dass viele Menschen bleiben. Die Ukraine muss den Wiederaufbau mit den Menschen schaffen, die im Land geblieben sind oder zurückkommen.

Was bedeutet das für die ukrainische Wirtschaft?

Das bedeutet, dass man kapitalintensive Industrien und Hightechindustrien aufbauen wird. Auch die Agrarindustrie kann noch kapitalintensiver werden. Neue Fabriken werden einen viel höheren Automatisierungsgrad haben als bisherige Fabriken. Auch die Metallproduktion wird automatischer und grüner sein. Die ukrainische Wirtschaft wird roboterintensiver werden. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Ukraine selbst nach den Fluchtbewegungen seit der Eskalation eines der bevölkerungsreichsten Länder Europas bleibt.

In der Vergangenheit war das Handelsdefizit mit Europa meist negativ . . .

. . . aber das ist per se kein Problem. Die Ukraine importiert aus der EU zum Beispiel Maschinen. Die sind wichtig für die ukrainische Industrieproduktion, sie schaffen Produktivität. Die Ukraine importiert auch große Mengen an Medizinprodukten aus der EU. Das ist im Grunde eine Investition in die Gesundheit. Wir importieren wenige Luxusgüter aus Europa.

Steckbrief

Veronika Movchan ist Direktorin des Institute for Economic Research and Policy Consulting (IER) in Kiew. Die Ökonomin war auf Einladung des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche in Wien.

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