175 Jahre „Die Presse“

Die Zeitung der Börsenzocker

Verzweiflung vor dem Börsengebäude im Mai 1873. Man fand die Schuld am Krach beim liberalen Wirtschaftsprinzip, jüdischen Spekulanten und Journalisten.
Verzweiflung vor dem Börsengebäude im Mai 1873. Man fand die Schuld am Krach beim liberalen Wirtschaftsprinzip, jüdischen Spekulanten und Journalisten.Josef Eugen / picturedesk.com
  • Drucken

Aufarbeitung. Hemmungslos heizten Blätter wie die „Presse“ und die „Neue Freie Presse“ das Spekulationsfieber nach 1870 an. Der „Kater“ durch den Krach von 1873 befeuerte Populismus und Antisemitismus.

Nach der Tristesse einer verheerenden Niederlage (Königgrätz 1866) kamen die wirtschaftlichen Boomjahre für die Habsburgermonarchie. Arbeitskraft war billig zu haben, das Schienennetz ganz gut ausgebaut, der Doppelstaat Österreich-Ungarn von 1867 stürzte sich ins Abenteuer Industrialisierung. Plötzlich war richtig viel Geld da, um den Fortschritt zu finanzieren. Und wenn im Staatshaushalt das Geld nicht ausreichte, ließ man neues drucken, die Zinslast war für den Moment sekundär. Die Banken entdeckten zudem die auf Großkredite angewiesenen Fabrikanten als Kunden. Das Gründungsfieber brach aus, es wurde getragen vom Ehrgeiz des aufstrebenden Bürgertums. Es wollte seinen neuen, ihm zustehenden Platz in der gesellschaftlichen Pyramide auch zur Schau stellen, mit Palais auf der Ringstraße und, europaweit ausstrahlend, mit einer grandiosen Weltausstellung 1873.

Das funkelnde Gepränge und der Reichtum der aufstrebenden hyperaktiven Klasse spiegelten sich auch wider in seiner Zeitung, der 1864 gegründeten „Neuen Freien Presse“, die ihr (groß-)bürgerliches Leserpublikum von der älteren „Presse“ übernommen hatte. Wenn die Monarchie ökonomisch boomte, ging es auch der Zeitung gut. Sie residierte in einem Ringstraßenpalais in der Fichtegasse und bei der Weltausstellung von 1873 präsentierte sie sich in vollem Glanz, produzierte in einem eigenen Pavillon eine tägliche Expo-Beilage.

War sie auch mitverantwortlich für den Spekulationsgeist, der die Wirtschaft 1873 in eine schwere Krise führte? Höhepunkt waren die drei Jahre zuvor, als um 1869/70 eine breite Öffentlichkeit in Österreich jede Scheu vor dem Aktiengeschäft verlor. Die Börse bildete den Brennpunkt des Wirtschaftslebens. Man hörte auf, nach der Existenzberechtigung von Banken oder Industrieunternehmen zu fragen und ihre Chancen auf dem Markt zu hinterfragen. Keiner dachte an den möglichen Verlust des eingesetzten Kapitals, jeder nur an den möglichen Gewinn. Bestehende Unternehmen wurden in Aktiengesellschaften umgewandelt, 1869 waren es bereits 141. Das führte bereits im selben Jahr zu einer leichten Spekulationskrise.

Eldorado für Spekulanten

Wien galt bald als Eldorado für Bankiers und Spekulanten. Die Zeitungen beklagten, dass die Reserviertheit gegenüber dem Aktienhandel immer noch zu groß sei. Die Österreicher sollten endlich begreifen, dass man auch mit Nichtstun Profite erzielen konnte. Es gelte nur, die Börsenskepsis zu beenden und rechtzeitig einzusteigen, um nichts zu versäumen.

Die Kirche reagierte auf die Euphorie mit blankem Entsetzen. Sollte Wien zum Paradies der Zocker werden? Sie befahl den Journalisten, den „öffentlichen Sündern“, „schleunigst alle liberalen Gedanken aus dem Kopf zu schütteln, da wir sonst unfehlbar den schon sichtbaren Krallen des Teufels verfallen“ („Morgen-Post“, 12. Juli 1868).

Doch das bremste die epidemische Lust, reich zu werden, nicht. Die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit, sich begierig auf neue Unternehmen einzulassen, war erschütternd. Selbst liquiditätsschwache Personen konnten große Aktienpositionen aufbauen, ausgegangen wurde, so die Versprechungen in den Zeitungsartikeln und Inseraten, schließlich von stetig steigenden Kursen. Der später fällige Restkaufpreis sollte aus den erhofften Kursgewinnen beglichen werden. Ökonomen gaben auch dem „sanguinischen Charakter eines leicht verführbaren Volkes“ ohne jede volkswirtschaftliche Kenntnisse die Schuld.

Die Hoffnungen auf große Renditen durch einen Erfolg der Wiener Weltausstellung sollten sich als trügerisch erweisen. Jeder einzelne Bewohner Wiens verband mit dem Fremdenstrom, der nach Wien kommen würde, die verschiedensten finanziellen Vorstellungen, die alle dazu dienten, die eigene Geldtasche zu füllen. „Jeder halbwegs größere Geschäftsmann mutete sich so viel Verstand und Geschicklichkeit zu, um während und durch die Weltausstellung sein Schäfchen ins Trockene zu bringen und sich ins Privatleben zurückziehen zu können. Vom großen Hotelier bis zur armen Beamtenwitwe herab, die über eine Stube oder ein Cabinet verfügte, träumte nun alle Welt von Gewinn – natürlich in nie dagewesenen Proportionen“, schrieb am 8. November 1873 eines der vielen Börsenblätter.

Wer in diesen Tagen den Wirtschaftsteil der „Neuen Freien Presse“ las, sah fast nur Inserate von Banken, die von Woche zu Woche höhere Zinsen verhießen. Die Anzeigen waren so marktschreierisch, in großen Buchstaben, dass man an Zirkusreklame dachte. So stiegen in den Monaten vor der Weltausstellung die Aktienkurse in astronomische Höhen, ebenso wie die Wiener Immobilienpreise. Zur Finanzierung von Bauprojekten wurden von den Hypothekenbanken leichtfertig Pfandbriefe ausgegeben, denen als Sicherheit oft nur halb fertige Häuser, später nur geplante Häuser dienten.

So halfen die Zeitungen mit, das Laster zu schüren, die Bevölkerung zu einer leichtgläubigen Masse von Zockern zu formen, die sich gierig an Unternehmen beteiligten, die einer Bonitätsprüfung bei Weitem nicht standhielten. Es waren geübte Schwindler, die die verlockenden Zeitungsinserate schalteten. Wo waren die Journalisten, die vor den Taschenspielertricks in den Börsencomptoirs warnten? In der Redaktion der „Neuen Freien Presse“ waren sie nicht.

Zeitungen als Teil der Blase

Die Zeitungen verließen in diesen Jahren ihre Rolle als Kritiker der wirtschaftlichen Lage und nutzten ihre Stellung schamlos aus, um ihre Leser durch Artikel in die Fänge der Geschäftemacher zu locken. Sie mischten mit beim Spekulationsgeschäft, kurbelten an. Stand eine Aktienemission bevor, wurden die infrage kommenden Journale ca. 14 Tage vorher informiert und ihnen eine Beteiligung zugesagt. Mit der Zeit wollten sie auf derartige Geschäfte nicht mehr verzichten, vielleicht konnten sie es auch nicht, ohne in den wirtschaftlichen Ruin zu schlittern. Sie predigten einen noch nie da gewesenen wirtschaftlichen Aufschwung und nährten die überhitzten Erwartungen durch ihre Artikel.

Es gab kaum ein Blatt, das von diesem Taumel nicht mitgerissen wurde und im Fahrwasser der Börse mitschwamm. Der Journalismus wurde abhängig von der Welt des Kapitals. Er profitierte natürlich ebenfalls von dieser „Vermittlerrolle“. So wurden Redakteure wiederholt der Korruption bezichtigt und als Kollaborateure kritisiert. Das Leben mancher Zeitungsherausgeber spielte sich gleichsam zwischen Redaktion, Ministerbüros und der Börse ab. NFP-Chef Max Friedländer ist ein solches Beispiel. Ende des Jahres 1873 waren bereits vier große Blätter an Bankinstitute verkauft worden. Die „Neue Freie Presse“ gehörte der Anglo-Amerikanischen Bank und der Unionbank gemeinsam, die „Presse“ dem Wiener Bankverein.

Am 9. Mai 1873 gab es dann nichts mehr zu beschönigen oder zu verharmlosen, auch nicht von der NFP: „An der Börse herrscht Panik.“ Mehr als hundert größere Gesellschaften, darunter 40 Banken, mussten als Folge des Krachs liquidiert werden. „Jammer, Elend und Vernichtung“, las man im Leitartikel. Die Öffentlichkeit war erschüttert über die Verheerungen, Berichte über Selbstmorde waren die Folge, täglich erfuhr man vom Tod eines durch die Börse ruinierten Mannes.

Die Zeit der Entbehrungen begann. Viele feudale Villen oder Beletagen standen nun leer. Die neureichen Börsianer konnten sich mit ihren Aktien die Zimmer tapezieren. Kleine Anleger hatten alle ihre Ersparnisse aufs Spiel gesetzt – und verloren. Die Zeitung, die so viel Mitschuld hatte, beklagte nun die verloren gegangene Reputation des Aktienmarktes und ermahnte die Wiener Börse, sich vor einer Wiederholung solcher Exzesse zu hüten.

In keinem Land ist das Zeitalter des Hochliberalismus mit solcher Vehemenz zusammengebrochen wie in der Donaumonarchie. Die Krise von 1873 legte die Wirtschaft dann für Jahre lahm. Österreich wurde in seiner ohnehin verspäteten wirtschaftlichen Entwicklung weit zurückgeworfen. Der Krach raubte die Möglichkeit, die Triumphe des liberalen Wirtschaftsprinzips, des freien Konkurrenzkampfes zu feiern.

Die Theorie von einer reinen Börsenkrise wurde fallen gelassen, stattdessen spricht man von einer allgemeinen Wirtschaftskrise, hervorgerufen durch Gründungsschwindel und Spekulationswut. Die Börse war nicht die alleinige Ursache, sondern nur der Ort, wo die Krise am stärksten zum Ausdruck kam. Auf jeden Fall leitete sie das Ende der liberalen Herrschaft ein. Neue Strömungen, populistische, antikapitalistische, aber auch antisemitische Bewegungen erhielten Auftrieb, denn die Suche nach den Schuldigen wurde oft bei jüdischen Bankiers und Spekulanten gesucht. Ein Gutteil der Schuld hätte man auch bei den Journalisten gefunden.

Spekulanten

Man nennt das wohl Korruption: Die großen Zeitungen förderten im eigenen Interesse die Spekulationslust an der Börse, verdienten durch Bankeninserate und heizten die Leichtgläubigkeit einer unwissenden Bevölkerung an. So lenkten sie das Geld der Anleger auch in die eigenen Kanäle. Der Rückschlag nach dem Krach traf sie dann unerwartet hart.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

>> Hier geht es zu den Geschichten der Jubiläumsausgabe
>> Bestellen Sie ein Exemplar der Jubiläumsausgabe im Presse-Shop

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.