175 Jahre „Die Presse“

„Feigheit der Judenblätter“

Der Antisemit Karl Lueger war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien.
Der Antisemit Karl Lueger war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien.Schmutzer, Ferdinand / picturedesk.com 
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Aufarbeitung. Warum fand ein von jüdischen Redakteuren geprägtes Blatt nicht zu einer klaren Verurteilung des Antisemitismus? Und warum hielt es nichts vom Zionismus?

Die Juden Wiens hatten am Ende des 19. Jahrhunderts innerlich Abstand genommen von den alten Traditionen, sie hatten sich assimiliert und sahen sich dem Zustrom orthodoxer, mittelloser, durch Pogrome vertriebener Juden aus dem Osten gegenüber. „Endlich hatte man, erst durch Geschäftstüchtigkeit, dann durch intellektuelle und künstlerische Leistungen, den Respekt der Mitbürger gewonnen und sich im Lebensstil immer mehr an sie angepasst, nun aber brachten diese Zugereisten eine fremde Lebensform und Überlieferungen mit, wie sie Wiens alteingesessene und emanzipierte jüdische Familien längst aufgegeben hatten“, schrieb Hilde Spiel.

Diese Ressentiments gegen die „anderen“, neu hinzugekommenen Juden waren in den liberalen Blättern vom Schlag der „Presse“ und „Neuen Freien Presse“, deren Redaktionsstab fast ausschließlich aus Juden bestand, allenthalben zu spüren. Satiriker wie Daniel Spitzer übernahmen konsequent judenfeindliche Stereotype. Gleich in seinem ersten Feuilleton in der „Presse“ vom 23. Juli 1865 führt Spitzer einen „Galizierjüngling“ mit Kaftan und Schläfenlöckchen vor. Das war kein Debütantenausrutscher, 22 Jahre später benützte der gefeierte und berühmte Journalist noch immer ganz ähnliche judenfeindliche Klischees – nun in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu Leuten wie Karl Lueger, die mit populistischen Vorurteilen gegenüber Juden Politik machten.

Klischeebilder wie die vom ungewaschenen Kaftanjuden oder dem korrupten Zeitungsmann waren damals derart präsent, dass sie als „kultureller Code“ fungierten, dessen sich auch Personen bedienten, die ihrem Selbstverständnis nach keine Judenfeinde, sondern wie im Fall von Spitzer selbst jüdischer Herkunft waren. Journalisten, auch sozialdemokratische, verwendeten diese sprachlichen Bilder und Formulierungen, die meilenweit von ihrer politischen Gesinnung entfernt waren. Das gilt durchaus auch für den Kritiker Karl Kraus.

Vom Vorwurf, dem Antisemitismus bei der Erlangung der sprachlichen Hegemonie zumindest nichts in den Weg gelegt zu haben, kann man die liberalen Großblätter nicht freisprechen. Vor 1882 ist in Zeitungen wie der „Neuen Freien Presse“ vom Aufkommen der antisemitischen Bewegung fast nichts zu bemerken. Judenfeindlichkeit kommt fast nur in Korrespondentenberichten zur Sprache (etwa als „Krawalle“ und „Exzesse“ in Böhmen), ist aber kein Thema für eine gründliche Auseinandersetzung. Als es in Wien 1866 zu Gewalt gegen Juden kommt, schreibt die „Presse“ von ein paar bedeutungslosen Schlägereien, man solle aber nicht den Teufel an die Wand malen. Eine Parteinahme für die Opfer wird vermieden. Den Lesern der „Neuen Freien Presse“ dürfte bekannt gewesen sein, wer in der Redaktion Jude war. Trotzdem wurde von einer nichtjüdischen, rein österreichischen Position aus argumentiert.

Erst ab 1882 finden sich dazu Leitartikel in der Zeitung. In völlig falscher Einschätzung wird davon ausgegangen, dass die neue Bewegung, die als Ausdruck mangelnder Bildung und sozialen Neids interpretiert wird, sich an die Regeln des liberalen Diskurses halten werde. Und es werden Lessing und Voltaire zitiert. Die Antwort der Gegenseite war der Schlagring. Für Arthur Schnitzler war diese Haltung des jüdisch dominierten Blatts ein Skandalon. Literatur, die sich mit der Problematik des Antisemitismus beschäftigte, wie sein „Professor Bernhardi“ oder „Der Weg ins Freie“, wurde von diesen Blättern ungnädig aufgenommen. Man möchte den Anschein des jüdischen Cliquentums vermeiden, dem anwachsenden Antisemitismus durch eine wenn schon nicht antijüdische, sondern durch ajüdische Haltung den Wind aus den Segeln nehmen. Schnitzler war erbittert über die Versuche der Anpassung an das deutschnationale, antisemitische Umfeld und ärgerte sich über die „Feigheit der Judenblätter“.

Das Ende des liberalen Gedankens

Herausgeber Moriz Benedikt schwieg beharrlich zum Thema Antisemitismus und verweigerte Theodor Herzl die Unterstützung bei seinem Projekt des Zionismus. „Sie stellen uns vor eine ungeheuer große Frage“, „das ganze Blatt bekäme ein anderes Aussehen. Wir galten bisher als Judenblatt, haben das aber nie zugestanden. Jetzt sollen wir plötzlich alle Deckungen, hinter denen wir standen, aufgeben.“ Und später: „Es wird vielleicht einmal zu schweren antisemitischen Ausschreitungen kommen, Mord, Totschlag, Plünderungen – dann werden wir vielleicht ohnehin gezwungen sein, ihre Idee zu benützen.“ Da war für Herzl klar, dass er von der „Neuen Freien Presse“ nichts zu erwarten hatte. Mit der Machtergreifung Karl Luegers in Wien konnte sich die Zeitung freilich nicht abfinden. „In ganz Europa hat der liberale Gedanke, von dem das deutsche Bürgertum erfüllt ist, Fortschritte gemacht. Es ist nicht einzusehen, warum es gerade in Österreich anders sein soll.“ Von der einst so einflussreichen Bewegung des 19. Jahrhunderts war nicht mehr viel übrig. Zu den Verlierern der neuen Zeit gehörte auch die Zeitung. Der Geist, den sie verkörperte, war nun nicht mehr gefragt. Sie verlor an Einfluss.

Jubiläum

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