175 Jahre „Die Presse“

Zwischen Faschismus und Demokratie

Paul Mai/ullstein bild via Getty Images
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Aufarbeitung. Die „Neue Freie Presse“ äußerte kaum Kritik an Hitlers Deutschland − auch auf Druck der Regierung. Nach 1945 fanden NS-Gegner und Verfolgte keinen Platz in ihrer ehemaligen Redaktion.

Die „Neue Freie Presse“ war vor allem durch die wirtschaftliche Depression nach dem Börsenkrach von 1929 schwer angeschlagen. Aber noch immer galt sie als „publizistische Visitenkarte“ Österreichs, keine Regierung wollte es verantworten, sie untergehen zu lassen. 1934 bestand die Gefahr, dass ein Konsortium aus dem nationalsozialistischen Deutschland die Zeitung in die Hände bekommt. Das führte zu einer Übernahme durch die österreichische Regierung. Die Zeitung war das einzige österreichische Presseorgan, das damals in Deutschland verbreitet war (mit rund einem Fünftel der Gesamtauflage). Man merkt daher in der Berichterstattung gegenüber Hitlers Regime große Vorsicht.

Der Medienhistoriker Theodor Venus hat dieses Verhalten ausführlich dokumentiert: Es gab kaum ein Wort der Kritik von den Deutschland-Korrespondenten über das brutale Vorgehen der SS im Gefolge des sogenannten Röhm-Putsches. Nicht einmal der nationalsozialistische Putschversuch vom 25. Juli 1934 in Wien bot Anlass für eine klare Distanzierung. In Berlin hieß es danach, es müsse abgewartet werden, wie sich die österreichische Presse zu Deutschland stellt. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg beruhigte die NS-Größen: Die Zeitungen seien bereits angewiesen, ihren „Feldzug gegen die Herabsetzung der gegenwärtigen reichsdeutschen Zustände einzustellen“.

Jüdische Leser wenden sich von „ihrer“ Zeitung ab

Die „Neue Freie Presse“ („NFP“) begrüßte die Rückgabe des Saargebietes an Deutschland und, besonders erschreckend, bagatellisierte die von Hitler auf dem Nürnberger Parteitag 1935 verkündeten Gesetze zur Diskriminierung deutscher Juden. Sie analysierte das als „ersten konstruktiven Versuch, um zu einem erträglichen Verhältnis mit dem jüdischen Volksteil zu gelangen. „Eine als jüdisch geltende Zeitung“, so Theodor Venus, „billigte mit bemerkenswerter Toleranz die sich immer mehr steigernden Verfolgungsmaßnahmen des totalitären Regimes gegen die deutschen Juden (. . .) Ihre versöhnliche Haltung gegenüber dem Dritten Reich und ihr weitgehender Verzicht auf Kritik am NS-Regime hatte einen kaum wiedergutzumachenden Vertrauensverlust in Österreich zur Folge, besonders unter ihren liberalen und jüdischen Lesern.“ Sie wandten sich ab von der Zeitung, die Abonnentenzahl ging zurück, die Auflage sank von 44.000 auf 30.000 Exemplare. Viele Leser wanderten zum „Neuen Wiener Tagblatt“ und zum „Neuen Wiener Journal“, die sich weniger Hemmungen in ihrer Berichterstattung auferlegen mussten. Die Folgen für die Bilanz waren katastrophal.

Eine völlige Fehleinschätzung unterlief der „NFP“ bei der Frage der Bewertung des Berchtesgadener Treffens zwischen Kurt Schuschnigg und Adolf Hitler am 12. Februar 1938. Hitler habe die Notwendigkeit der Existenz Österreichs „als zweiter deutscher Staat in ungestörter Souveränität“ begriffen. In Wirklichkeit steigerte Hitler den Druck auf das Nachbarland ins Unerträgliche. In den stürmischen Tagen vor dem Rücktritt Schuschniggs am Abend des 11. auf den 12. März 1938 stellte sich die Zeitung noch loyal hinter den Kanzler und gab in treuer Pflichterfüllung die ausgegebenen Parolen wieder.

„Wie viele österreichische Journalisten in den 1930er-Jahren emigrierten bzw. ins Exil gedrängt wurden, wissen wir heute nicht. Dass es wahrscheinlich relativ viele waren, dafür spricht schon der Umstand, dass gerade der Wiener Journalismus der Ersten Republik zu rund 50 bis 70 Prozent von Juden gestaltet worden war“, so der Kommunikationswissenschaftler Fritz Hausjell. Studien zeigen zudem, dass rund 40 Prozent der Exiljournalisten und -journalistinnen im Zug der rigorosen Maßnahmen des „Ständestaates“ flohen, 60 Prozent wurden ab 1938 vom NS-Regime vertrieben. Danach wurden die Zeitungen zu einem wichtigen Werkzeug der nationalsozialistische Propaganda und Machtausübung. Die gleichgeschaltete Presse wurde in Form und Inhalt uniform und verlor beim Leserpublikum an Glaubwürdigkeit und Zugkraft.

Die „Neue Freie Presse“ durfte nach der Gleichschaltung der Redaktion nicht mehr lang leben, ihre letzte Ausgabe erschien am 31. Jänner 1939. Hitler ließ seine Handlanger in Wien gewähren. Die Zahl der „NFP“-Journalisten, die entweder wegen ihrer jüdischen Abstammung oder ihrer politischen Gesinnung nach dem sogenannten Anschluss Österreichs 1938 Opfer von Säuberungen wurden, ist groß. Die Feuilletonisten und Kritiker Felix Salten, Ernst Lothar und Raoul Auernheimer flohen in die USA, Chefredakteur Ernst Benedikt verlor praktisch seinen gesamten Besitz, konnte aber nach Schweden entkommen. Theodor F. Meysels floh nach Israel, andere nach London, nach Argentinien, Kuba. Etliche nahmen sich das Leben, als die Gestapo vor der Tür stand, oder sie kamen in einem Konzentrationslager ums Leben wie Paul Kisch, der Bruder des „rasenden Reporters“ Egon Erwin Kisch.

Keine Rückkehr für Emigranten nach Kriegsende

Doch es gab viele, die im Ausland nicht heimisch wurden und 1945 zurückgerufen hätten werden können. Zum Beispiel von Ernst Molden. Er konnte als Halbjude dank seiner Frau Paula von Preradović überleben und in seinen früheren Beruf zurückkehren, als Herausgeber und Chefredakteur verhalf er der „Presse“, die sich in der geistigen Tradition der „Neuen Freien Presse“ verortete, zu einem neuen Start. Doch niemand aus der ehemaligen Redaktion der „NFP“ wurde gebeten, zurückzukehren.

„Die Reihen der sich meldenden Journalisten wurden immer dichter. Von überall kamen sie: aus dem KZ, aus der Untergrundbewegung der Heimat, aus den Widerstandsbewegungen des von den Nazis besetzten Auslandes, aus den Reihen der alliierten Truppen, aus der Kriegsgefangenschaft und aus der Dienstverpflichtung“, hieß es 1946 in der Zeitschrift der Gewerkschaft der Freiberufler. Doch war der Journalismus der ersten Nachkriegsjahre kein Metier, das Widerstandskämpfern große Chancen eröffnete, schon gar nicht in der „Presse“. Offen deklarierter Antisemitismus war verpönt und aus den Medien verbannt, was aber nicht heißt, dass die Journalisten, die von 1938 bis 1945 ihre Posten behielten und redaktionell tätig waren, nicht unterschwellige Ressentiments hatten.

Nur ein Drittel der zwischen 1945 und 1947 tätigen Tageszeitungsjournalisten war schon vor dem Krieg in Österreich aktiv, 37 Prozent verfügten über publizistische Erfahrungen im NS-Regime. Was die „Presse“ betrifft, verfügten 67,8 Prozent der Journalisten der Anfangsjahre über journalistische Erfahrung im Faschismus, etwa doppelt so viele wie im Wiener Durchschnitt. Anti-Nationalsozialisten hingegen stellten die verschwindende Minderheit: 12,5 Prozent (nach einer Studie von Fritz Hausjell und Michaela Lindinger, „Medien & Zeit“, 1994).

Ernst Benedikt wurde wie viele Emigranten und Emigrantinnen nach Kriegsende nicht ins befreite Österreich zurückgerufen. Der damalige Kulturstadtrat in Wien, Viktor Matejka, der als Einziger in persönlichen Briefen zur Heimkehr aufforderte, meint in seinen Erinnerungen: „Selten bin ich so abgeblitzt wie damals, als ich nichts anderes wollte als das Selbstverständlichste von der Welt.“ Doch immerhin lieferte Ernst Benedikt bis zu seiner Heimkehr 1962 als Skandinavien-Korrespondent der „Presse“ Beiträge aus dem schwedischen Exil.

In der „Presse“ erschienen zu seinem 80. Geburtstag Würdigungsartikel, die auf seine Vertreibung 1938 und auf sein Exil entweder gar nicht oder nur sehr verschleiernd Bezug nahmen. Der damalige „Presse“-Chefredakteur Otto Schulmeister schrieb über den ehemaligen Verfolgten des NS-Regimes: Er sei ein Mensch, „den böse Zeitläufe umhergetrieben haben, der ein Reich verlor, aber ein anderes gewann“. Er habe seinen „Weg über die Fichtegasse (Redaktionsgebäude der „NFP“, Anm.) nach Stockholm und zurück ins Badener Heim“ genommen („Die Presse“, 20. Mai 1972). „Wie ein einfacher Spaziergang schien Schulmeister der leidvolle Weg eines verjagten Österreichers in die Fremde“, so das Fazit von Michaela Lindinger.

Nationalsozialismus

1938 erfolgte die Gleichschaltung der Presse. Die „Neue Freie Presse“ erschien bis 31. Jänner 1939. Viele Redakteure wurden Opfer des NS-Regimes. Nach Kriegsende breitete die „Presse“ den Mantel des Schweigens über diese Zeit, auch über das Schicksal der ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

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