Morgenglosse

Eine EU ohne Ukraine ist vorstellbar, Frau Präsidentin

Kommissionspräsidentin von der Leyen bei ihrer Pressekonferenz am Montag in Madrid.
Kommissionspräsidentin von der Leyen bei ihrer Pressekonferenz am Montag in Madrid.Reuters / Violeta Santos Moura
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In Brüssel wird elf Monate vor der Europawahl so getan, als sei die Erweiterung der EU bereits Gewissheit. Das könnte zum politischen Bumerang werden.

Am Montag, in Madrid, ist es wieder einmal passiert: Ursula von der Leyen hat sich ein bisserl in einer Fremdsprache verhaspelt, und einen Moment lang hielt die interessierte Medienöffentlichkeit den Atem an. „Schauen wir für Jahre nach vorn, und versuchen wir uns vorzustellen, wie Europa aussehen wird“, sprach die Präsidentin der Europäischen Kommission bei der Pressekonferenz nach dem Treffen ihres Kollegiums von Kommissaren mit der spanischen Regierung anlässlich des Beginns der EU-Präsidentschaft Spaniens. „Können wir uns vorstellen, dass die Europäische Union ohne Ukraine, ohne Moldau, ohne den Westbalkan sein wird? Und dass diese Teile von Europa unter dem Einfluss von Russland oder China stehen? Unmöglich!“ Kurz waren wir anwesenden Brüsseler Korrespondenten, die auf Einladung der spanischen Regierung bis Mittwoch in Madrid weilen und die Mitglieder der Regierung treffen, konsterniert: hat von der Leyen auf Englisch „let‘s look ahead for years“ gesagt - oder „let‘s look ahead four years“, was nahelegen würde, dass sie der Ansicht ist, die Ukraine, Moldau, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien könnten bis 2027 EU-Mitglieder werden? Ihr Sprecher teilte uns dann mit, sie habe gemeint, wir sollten „einige Jahre“ in die Zukunft blicken.

Das ändert aber nichts an der problematischen Haltung der Kommissionschefin. „Die Fahrtrichtung ist klar. Jetzt müssen wir darüber nachzudenken beginnen, das Europa vollständig ist, dass diese Länder Teil der Europäischen Union werden“, fügte von der Leyen hinzu. Anders ausgedrückt: für sie und weite Teile des Brüsseler Establishments ist es ein unausweichliches Faktum, dass diese Länder der EU beitreten werden. Es gehe jetzt also nur mehr darum, wie das technokratisch aufzuschienen ist.

Auch Brexit und Eurokrise galten als „unmöglich“

Damit legt die Präsidentin, mit Verlaub, eine alarmierende Fehleinschätzung erstens ihres politischen Pouvoirs und zweitens der öffentlichen Meinung in Europa an den Tag. Denn eine Präsidentin der Kommission, die ohnehin täglich an die Rechtfertigung ihrer eher dünnen demokratischen Legitimation erinnert werden sollte, hat derart existenzielle Fragen über die Union nicht vom Redepult aus für die Mitgliedstaaten zu beantworten. So sehr die EU die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen die russischen Invasoren auch unterstützen muss: eine EU ohne Ukraine ist denkbar. Auch eine ohne Moldau. Oder ohne die Westbalkanstaaten (die derzeit allesamt wenig tun, um eine EU-Mitgliedschaft zu verdienen). Ob sich das ändert, hat nicht die Kommission zu entscheiden - und schon gar nicht eine Präsidentin, deren Mandat in einem Jahr abläuft, und die nicht so sicher ein zweites in der Tasche hat, wie ihre Entourage glauben dürfte.

Erinnern wir uns an all die Dinge, die nach Ansicht der Brüsseler Entscheider „unmöglich“ waren. Ein Mitglied der Eurozone, das in den Staatsbankrott schlittert und von den anderen Euroländern finanziell gerettet werden muss? Oder der Austritt eines Mitgliedstaates aus der Union? Die Regierungsübernahme durch Postfaschisten in einem Gründungsmitglied der EU? Die Fälle von Griechenland, dem Vereinigten Königreich und Italien zeigen, was alles plötzlich sehr wohl möglich und sogar Tatsache wird, wenn Regierungen ihre politische Verantwortung vernachlässigen, oder eine Mehrheit der Wähler es so will (wenn auch oft unter gezielt manipulierten Vorstellungen über die Tragweite dieser Entscheidungen). Wer also der Ukraine helfen, und sie eines Tages in der EU sehen will, sollte sich davor hüten, dies als geschichtliche Unausweichlichkeit darzustellen - und vielmehr noch gewissenhafter argumentieren, wieso so eine EU-Erweiterung im Interesse Europas wäre.

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