Gastkommentar

Bruchlinien in Putins Herrschaftssystem

Peter Kufner
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In Russlands heutigem totalitären Polizeistaat haben die Menschen Angst, ihre Meinung zu sagen. Wladimir Putins Schwäche jedoch und die Risse in dem von ihm so minutiös aufgebauten System sind unübersehbar.

Keine Entwicklung in der mittlerweile 23 Jahre währenden Amtszeit Wladimir Putins hat die Brüchigkeit seines Regimes so deutlich vor Augen geführt wie der gescheiterte Aufstand der Wagner-Gruppe am 24. Juni. Die Wagner-Söldner unter der Führung von Jewgenij Prigoschin haben die Autorität des Kreml dreist herausgefordert – und scheinen damit ungeschoren davongekommen zu sein. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB hat die strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Aufstand eingestellt. Doch Putins Probleme enden nicht mit dem Fall Wagner.

Die Autorin

Nina L. Chruschtschowa (*1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie
Professorin an der New School.

Prigoschins Kämpfer wären nicht in der Lage gewesen, in weniger als einem Tag fast 1000 Kilometer auf russischem Territorium zurückzulegen, wären sie nicht von Mitgliedern aus Putins innerem Kreis oder aus dem Militär unterstützt worden. Es kursieren Gerüchte, wonach die milliardenschweren Brüder Jurij und Michail Kowaltschuk eine Rolle gespielt haben könnten. Die Kowaltschuks, enge Vertraute Putins, teilen angeblich Prigoschins Überzeugung, dass Russland in der Ukraine oder in der allgemeineren Konfrontation mit dem Westen nicht energisch genug vorgehe.

General gönnt sich „eine Pause“

Ein weiterer möglicher Kollaborateur ist General Sergej Surowikin. Ebenso wie Prigoschin soll sich Surowikin für einen weitaus brutaleren Kriegseinsatz ausgesprochen haben, als Verteidigungsminister Sergej Schoigu ihn führt. Seit dem Aufstand hat man Surowikin nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Es heißt, er gönne sich „eine Pause“.

Gut ein Dutzend weiterer hochrangiger Militärs wurde inzwischen suspendiert oder abgesetzt. Es ist dabei nicht nur die mögliche Beteiligung an dem Aufstand, die zur Absetzung führt: General Iwan Popow, ranghoher Befehlshaber in der Ukraine, wurde entlassen, nachdem er die oberste Militärführung wegen ihrer Kriegsführung kritisiert hatte.

Den Wagner-Kämpfern droht hingegen keine Strafe. Sie wurden nach Belarus verlegt oder kämpfen weiter für Russland, allerdings unter einem anderen Kommandeur. Prigoschin wurde nicht einmal ins Exil verbannt, wie es die Vereinbarung zur Beendigung seines „Marschs auf Moskau“ angeblich vorsah. Vielmehr wurde er in Sankt Petersburg und Moskau gesehen, wo er am 29. Juni mit anderen Wagner-Kommandeuren mit Putin zusammentraf.

Man könnte anführen, dass diese Entwicklung Ausdruck des zweifelhaften Status der Wagner-Gruppe in Russland ist, wo private militärische Organisationen eigentlich illegal sind. Vor dem Großangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 bestritt Prigoschin überhaupt, dass es sich bei Wagner um eine Privatarmee handle. Wie Putin festgestellt hat, „existiert” Wagner zwar, aber nicht als „juristische Person“. Es gibt eine Gruppe, aber von rechts wegen „existiert sie nicht“.

Der Führer weiß alles besser

Dennoch gab Putin bei einem Treffen mit russischen Militärvertretern am 27. Juni bekannt, dass die Wagner-Truppe allein 2022 vom russischen Staat 86 Milliarden Rubel (fast eine Milliarde Dollar) für ihre Dienste erhalten habe. Wenn die meuternden Kämpfer auf der Gehaltsliste des Staats stehen, sollten sie vor ein Kriegsgericht gestellt und nicht begnadigt werden. Die Straffreiheit für Wagner ist umso irritierender in einer Zeit, in der normale Russen in einem totalitären Polizeistaat leben. Jede Kritik am Ukraine-Krieg –und seien es nur Zweifel an den Kriegsgründen oder der Hinweis auf die Notwendigkeit von Friedensbemühungen – kann dazu führen, dass die betreffende Person im Gefängnis landet oder als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt wird.

Putin hofft offenbar, dass er sich auf Orwell’schen Doppelsprech verlassen kann, um die Menschen in Russland auch hinsichtlich seines Vorgehens gegenüber Wagner ruhigzustellen. Wie schon zu Sowjetzeiten wird den Russen vorgeschrieben, völlig widersprüchlichen Ideen und jeder realistischen Grundlage entbehrenden historischen Erzählungen Glauben zu schenken. Vergesst euer persönliches Wissen oder eure Erfahrung – der oberste Führer weiß es besser.

Aufgewühlte Elite

Deshalb haben die Propagandisten auf allen Fernsehkanälen zuletzt damit zugebracht, gegen Prigoschins Verrat zu wettern und das katastrophale Potenzial der Rebellion hochzuspielen. So können die Menschen in Russland erleichtert sein, dass eine Einigung erzielt und Blutvergießen vermieden wurde.

Doch in den Tagen nach dem – von Putin als „Verrat“ bezeichneten – Aufstand spekulierten Experten über die Art der Wiedergutmachung, die Prigoschin wohl leisten musste, um einer harten Bestrafung zu entgehen. Schließlich ist Putin nicht als besonders nachsichtiger Führer bekannt.

Dennoch hat Putin den Wagner-Kämpfern, die seiner Ansicht nach „mit Würde gekämpft“ haben, aber bedauerlicherweise in die Rebellion „hineingezogen“ worden sind, kürzlich Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten. Er würde ihnen sogar gestatten, als Gruppe weiterzukämpfen, erklärte Putin kürzlich, allerdings nicht unter Prigoschins Führung. Wenn Prigoschin also immer noch ein Feind ist, warum läuft er dann frei auf russischem Boden herum? Warum wurde er zu dem Treffen im Kreml eingeladen, bei dem Putin den anderen Wagner-Kämpfern sein Angebot unterbreitete?

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Doppelsprech kann derartige Fragen nicht ausblenden. Tatsächlich offenbart Putins Umgang mit dem Wagner-Aufstand seine Schwäche. Das Verhalten der russischen Eliten untermauert dies. Nach Popows Entlassung veröffentlichte der Parlamentsabgeordnete Andrej Gurulyov die Standpunkte des Generals, die offenbar auch von anderen Militärs geteilt werden. In Putins Russland sollten solche Manifestationen der Uneinigkeit nicht unterschätzt werden.

Mehrheit wünscht Frieden

Die Unzufriedenheit mit Putins Führung ist nicht auf offizielle Amtsträger beschränkt. Aus jüngsten Umfragen geht hervor, dass 53 Prozent der Menschen in Russland sich Frieden wünschen – im Mai waren es noch 45 Prozent. Angesichts des Drucks auf die Öffentlichkeit, nur ja keine Kritik am Krieg zu äußern, könnte die tatsächliche Zahl durchaus höher liegen. Außerdem lehnen 86 Prozent den Einsatz taktischer Atomwaffen ab.

Freilich ist Putins Zustimmungsrate mit 81 Prozent nach wie vor hoch. Auch hält sich die Protestbereitschaft in Grenzen. Aber es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändert. Als ich in der Sowjetunion aufwuchs, lobten wir alle öffentlich die Führung unter Leonid Breschnew, obwohl wir wussten, dass der Kaiser keine Kleider hatte. Es dauerte ein paar Jahre und etliche weitere Führer, bis schließlich Michail Gorbatschow ans Ruder kam. Aber wir haben es letztlich geschafft. Auch heute mögen die Menschen in Russland Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Putins Schwäche jedoch und die Risse in dem von ihm so minutiös aufgebauten System sind unübersehbar.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier Copyright: Project Syndicate, 2023.

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