Harry Dexter White: Kommunist im Kapitalistenpelz

Harry Dexter White Kommunist
Harry Dexter White Kommunist(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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Er schuf den IWF und begründete die Weltherrschaft des Dollars. Doch Harry Dexter White war auch ein glühender Anhänger der Sowjetunion – und verriet Amerika mehr als ein Jahrzehnt lang skrupellos an Stalin.

Am vierten und letzten Tag seiner Recherchen in den Archiven der Princeton-Universität stieß Benn Steil auf einen seit sieben Jahrzehnten versteckten Schatz.

Auf 29 in flüchtiger Handschrift skizzierten Seiten gelben Notizpapiers öffnete sich Steil, dem Direktor für Internationale Wirtschaft am Council on Foreign Relations, eine seit 1944 verschlossene Tür in die abgründige Gedankenwelt des wichtigsten Architekten der weltwirtschaftlichen Nachkriegsordnung; eines Mannes, der zugleich für Amerikas Regierung arbeitete, während er ihre Interessen an den ideologischen Erzfeind im Kreml verriet und die amerikanischen Steuerzahler um Milliardenbeträge brachte.

„Russland ist der erste Fall einer sozialistischen Volkswirtschaft. Und sie funktioniert!“, jubelte Harry Dexter White, ein damals 52-jähriger hoher Beamter im US-Finanzministerium, in seinem Essay. Der Aufstieg der sowjetischen Planwirtschaft nach dem zu erwartenden baldigen Ende des Krieges sei unaufhaltsam. Das könne für die Welt nur eines bedeuten: „Auf jeden Fall wird der Wandel in die Richtung erhöhter Kontrolle über die Industrie und erhöhter Beschränkungen für den Wettbewerb und freies Unternehmertum gehen.“ Amerika solle die Sowjets nicht dämonisieren, sondern eine militärische Allianz mit Moskau schließen. Denn nur so könne die kriegerische Neigung Deutschlands und Japans endgültig gebannt werden.

Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Gedanken war White einer der mächtigsten Bürokraten Washingtons. Als Amerikas Chefverhandler bei der Bretton-Woods-Konferenz über die Zukunft der Weltfinanz saß er auf Augenhöhe mit dem britischen Vertreter John Maynard Keynes – und er manövrierte den als wesentlich brillanter geltenden Ökonomen so geschickt aus, dass fortan der amerikanische Dollar und nicht mehr das britische Pfund die Leitwährung der Welt sein sollte.

All das hat Benn Steil meisterhaft im Buch „The Battle of Bretton Woods“ zusammengetragen, das soeben bei Princeton University Press erschienen ist. Der Fund von Whites kommunistischem Manifest hat ihn dabei ziemlich aus den Socken gehaut. „Es ist bemerkenswert, dass bisher niemand diesen Aufsatz gesehen hat“, sagte Steil im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“.


Der Clou mit der Notenpresse. Denn das Manuskript veranschaulicht, wie sehr der real existierende Sozialismus der Sowjetunion in den 1930er- und 40er-Jahren führende Köpfe des westlichen Establishments anzog. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und der Unfähigkeit liberaler Demokratien in der Zwischenkriegszeit, dem Faschismus zu widerstehen oder die Armut zu bekämpfen, sahen viele Intellektuelle in der Planwirtschaft den einzigen Ausweg.

Walter Duranty zum Beispiel, der damalige Moskau-Korrespondent der „New York Times“, war so begeistert von den Sowjets, dass er auf einer mehrwöchigen Reportagereise im Jahr 1932 kein Wort über die Millionen Todesopfer der von Stalin willkürlich herbeigeführten Hungersnot verlor. Die Jubelberichte aus dem roten Reich brachten ihm den Pulitzer-Preis ein. Der in Wien als Peter Smolka geborene Peter Smollett wiederum war während des Kriegs Leiter des britischen Propagandaministeriums – und gleichzeitig ein eifriger Agent des KGB.

Auch White ließ sich vom roten Virus anstecken. 1933, als junger Professor an einem College in Wisconsin, saß er schon auf gepackten Koffern, um Stalins Planwirtschaft vor Ort zu studieren. Die Einladung, für das US-Finanzministerium an einer Währungsreform zu arbeiten, durchkreuzte diesen Plan. Gleich nach seiner Ankunft in Washington verwob sich White in ein Netz von sowjetischen Spionen und Sympathisanten. Mehr als elf Jahre lang berichtete er durchgehend über viele der wichtigsten außen- und finanzpolitischen Erwägungen der Regierungen unter den Präsidenten Roosevelt und Truman.

Doch White lieferte dem Kreml nicht nur Ezzes, sondern auch Cash. Als das US-Finanzministerium Anfang 1944 eine Währung für das zu besiegende Deutschland zu entwerfen begann, machte sich White dafür stark, dass die UdSSR ebenfalls Druckplatten für diese neuen Geldscheine in die Hand bekommen sollte: „Wir sollten uns glücklich schätzen, der Sowjetunion dieses Zeichen unserer Wertschätzung ihrer Bemühungen zu geben.“

Das Ergebnis war logisch: Die Westalliierten brachten zwischen September 1944 und Juli 1945 10,5 Milliarden dieser neuen Mark in Umlauf – die Sowjets hingegen mehr als 78 Milliarden. Weil dieses Geld zu einem fixen Kurs gegen harte Dollar umtauschbar war, steckten sich die Sowjets auf diesem Weg zwischen 300 und 500 Millionen Dollar in die eigene Tasche. Nach heutigem Wert wären das vier bis 6,5 Milliarden Dollar, gibt Steil zu bedenken: „White wusste ganz sicher, was die Sowjets mit diesen Druckplatten zu tun gedachten und dass der amerikanische Steuerzahler die Rechnung dafür würde zahlen müssen.“

Eine wesentliche Rolle spielte White auch bei der Konzipierung des Plans des damaligen US-Finanzministers Henry Morgenthau, Deutschland nach Kriegsende zu entindustrialisieren. „Viele prominente Mitglieder in der Regierung fanden, dass das unmoralisch wäre und zu massenhaftem Hungertod führen würde“, erklärt Steil. White lieferte viele Details für diesen Plan, der nach Morgenthaus Rücktritt im April 1945 obsolet wurde.

Whites Berichte nach Moskau allein machten ihn nicht zu einem der wichtigsten sowjetischen Spione. „Da war selten etwas dabei, was ein kompetenter Geheimdienst nach einer gewissen Zeit nicht selbst herausgefunden hätte“, erklärt Steil. Unschätzbar wertvoll für den Kreml war es aber, ständigen Zugang zu jemandem zu haben, der sowjetische Sympathisanten in US-Regierungsstellen platzieren konnte – oder sie deckte, sobald Spionageverdacht gegen sie aufkam. „Die Sowjets sahen in ihm einen sehr wichtigen Agenten, der US-Politik an höchster Stelle beeinflussen kann.“

Und einen echten Überzeugungstäter. Denn Geld hat White höchstwahrscheinlich nie für seine Spionagedienste verlangt. Das legt eine Anekdote aus dem Jahr 1937 nahe, die der frühere kommunistische Spion Whittaker Chambers in seinem Buch „Witness“ wiedergab. Als ein sowjetischer Agent White für seine Dienste bezahlen wollte, sagte Chambers: „Das ist dumm. Dieser Mann ist ein Kommunist aus Überzeugung. Wenn Sie den bezahlen wollen, wird er schwerst beleidigt sein.“ Als Kompromiss einigte man sich auf einen feinen Teppich aus dem usbekischen Buchara.


Beinahe im IWF-Chefsessel. Letztendlich kam das FBI White mit seinen staatsfeindlichen Umtrieben auf die Schliche. In einem vertraulichen Bericht an Präsident Harry Truman bezeichnete FBI-Direktor J. Edgar Hoover White als „wertvollen Mitarbeiter einer geheimen sowjetischen Spionageorganisation“. Das brachte Truman in ein Dilemma. Er wollte White nämlich zum ersten Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) machen. Würde er Whites Kandidatur zurückziehen, müsste er vor aller Welt erklären, wieso er den Chefarchitekten des IWF übergeht. Trumans Lösung: Er schlug den Amerikaner Eugene Meyer für den Chefsessel der ebenfalls neuen Weltbank vor und überließ die IWF-Spitze dem Belgier Camille Gutt. Das ist der Grund, weshalb bis heute stets ein Europäer den Fonds und ein Amerikaner die Bank führt.

Im Sommer 1948 fand alles ein dramatisches Ende. White wurde von seinem früheren Genossen Chambers öffentlich der Spionage bezichtigt und musste sich im Repräsentantenhaus vor dem Unterausschuss für unamerikanische Aktivitäten rechtfertigen. Diesen Showdown bestand er zwar, doch der Stress brachte ihn ins Grab. Am Tag nach der Anhörung erlitt er während einer Zugfahrt nach New Hampshire einen Herzinfarkt. Am 16. August 1948, gegen Abend, verstarb Harry Dexter White: Schöpfer des IWF, Freund der UdSSR und Kind seiner Zeit.

Roter White

1892. Harry Dexter White wird in Boston geboren. Er dient im Ersten Weltkrieg (allerdings ohne direkte Kampferfahrung) und studiert danach Volkswirtschaft in Harvard.

1924. Robert La Follette kandidiert für die „Progressive Party“ um das Präsidentenamt. Seine Agenda von starker Regierungsintervention in der Wirtschaft und Kritik am US-Imperialismus in Lateinamerika begeistert White.

1933. White erhält in Harvard keine Stelle und lehrt an einem College in Wisconsin. Er will in der UdSSR die Planwirtschaft studieren. Ein Angebot, im Finanzministerium an einer Währungsreform zu arbeiten, ist reizvoller.

1944. White vertritt die USA in Bretton Woods, wo der IWF und die Weltbank geschaffen werden. Er schafft es, den Dollar zur globalen Leitwährung zu machen.

1948. White wird der Spionage für die UdSSR bezichtigt. Der Stress darob ist zu viel für sein Herz; er stirbt am 16. August 1948.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2013)

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