Der Mord an meinem Vater

Mord meinem Vater
Mord meinem Vater(c) EPA (STEPHANIE PILICK)
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Semiya Şimşeks Vater war - vermutlich - das erste Opfer der deutschen rechtsextremen Terrororganisation NSU. In einem sehr persönlichen Buch beschreibt Şimşek, wie ihre Familie ins Visier der Ermittler geriet - und wie ihr Vater von der Polizei kriminalisiert wurde.

Neun Schüsse. Drei Projektile trafen seinen Kopf, zwei die rechte Schulter, eine Kugel seinen linken Unterarm, eine den linken Ellbogen, eine Kugel streifte die Wange, eine andere zerfetzte das Gesicht. Als die Polizei eintraf, lebte Enver Şimşek noch – zwei Tage später erlag der Blumenhändler seinen Verletzungen. Was genau an jenem 9.September 2000 passiert ist, hat über ein Jahrzehnt nicht nur die Polizei, sondern ganz Deutschland beschäftigt.

Enver Şimşek war der Erste, der vermutlich von den Mitgliedern der rechtsextremen Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ermordet wurde. Als im deutschen Boulevard im Zusammenhang mit der Mordserie – insgesamt zehn Menschen soll der NSU getötet haben – die Begriffe „Döner-Morde“ und „Döner-Killer“ auftauchten, war das für Semiya Şimşek ein Schlag ins Gesicht, wie sie in ihrem neuen Buch „Schmerzliche Heimat“ schreibt. Was habe ihr Vater, der Blumenhändler, mit Döner zu tun gehabt?

Herabwürdigend und beleidigend seien diese Bezeichnungen – und es sind wohl auch diese beiden Adjektive, mit denen sich die Behandlung der Familie Şimşek durch die Polizei beschreiben lässt. Kurz nach dem Mord kam der Verdacht auf, dass die Familie selbst damit zu tun haben könnte. Semiya Şimşeks Mutter (und nicht nur sie) wurde mehrmals von der Polizei befragt: „Sie hauten auf den Tisch und schrien sie an, dass sie damit zu tun habe, sie solle es endlich zugeben.“

Die Beamten erfanden eine Zweitfrau, mit der Enver Şimşek ein Verhältnis gehabt haben soll, um zu prüfen, ob sich Şimşeks Frau in Widersprüche verwickelt. Erfolglos. Später, als auch andere mit derselben Tatwaffe, einer Ceská, getötet wurden, ermittelte die Polizei in Richtung Drogenszene. Ihr Vater, ein Drogenhändler? Für Şimşek unvorstellbar. Ja, er sei einmal die Woche nach Holland gefahren – aber um Tulpen zu holen, nicht Heroin.

Land der Maschinen und Motoren. Şimşeks Buch kann als eine persönliche Abrechnung mit den deutschen Kriminalisten bewertet werden. Viel bedeutsamer ist aber die Tatsache, dass hier eine Hinterbliebene „spricht“; es ist ihre Perspektive, die im vergangenen Jahrzehnt in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Ihren Vater beschreibt Semiya Şimşek als einen warmherzigen Familienmenschen, „er war alles andere als ein Pascha“. Den Haushalt habe er gemeinsam mit seiner Frau geschupft, die zwei Kinder, die in Deutschland auf die Welt kamen, gemeinsam aufgezogen.

Enver Şimşek kam im Jahr 1985 nach Deutschland, mit 24 Jahren. Wie mag er sich in den ersten Jahren hier gefühlt haben?, fragt sich Semiya Şimşek. Für ihren Vater war Deutschland „ein Land aus rechten Winkeln, in dem es nach Maschinen und Motoren riecht.“ Er fand Arbeit in einer Fabrik, später machte er sich als Blumenhändler selbstständig, expandierte erfolgreich, investierte in Grundstücke und Häuser in seiner türkischen Heimat. Dort, in der Nähe der Stadt Isparta, wollte er seinen Lebensabend verbringen. Enver Şimşek schlief kaum. Er pendelte zwischen Holland und der hessischen Stadt Schlüchtern, band Blumensträuße, belieferte seine Stände. Wie in den fünf Säulen des Islam vorgeschrieben, unternahm Şimşek eine Pilgerfahrt nach Mekka. Ab diesem Zeitpunkt habe ihr Vater gespürt, beschreibt Semiya, dass er bald am Limit ist, wenn er so weitermacht. Gemeinsam mit seiner Frau beschloss er, einen Gang zurückzuschalten, das Geschäft zu verkaufen. Kurz vor dem Verkauf, an einem seiner letzten Arbeitstage, wurde Şimşek ermordet.

Was dann folge, war ein beispielloser Spießrutenlauf, für die Familie, für die Polizisten. Die Ermittler hatten keinerlei Orientierung, wie der Journalist Peter Schwarz in Şimşeks Buch episodenhaft beschreibt. Sie nahmen jeden noch so kleinen Hinweis auf, fast alle erwiesen sich als nutzlos. Ein Gefängnisinsasse erfand eine Drogengeschichte, in der Enver Şimşek eine tragende Rolle gespielt haben soll – daran anknüpfend wurde im kriminellen Milieu ermittelt. Die Mordopfer hatten untereinander keine Verbindungen (die Tatorte lagen auch hunderte Kilometer voneinander entfernt) – diese Verbindung wurde in der Drogenszene vermutet. Jene Soko, die zur Aufklärung gegründet wurde, wurde „Halbmond“ genannt, schreibt Schwarz: „Offenbar ging es aus der Sicht der Polizisten um Geschehnisse in einer hermetischen, abgeschotteten Welt, einer ,Halbmond-Welt', es ging um ,Halbmond-Opfer' und ,Halbmond-Täter' anders gesagt, um schmutzige Geschäfte unter Türken, Morde unter Türken.“ Erst nach dem neunten Mord hätten die Ermittler rassistisch motivierte Morde in Erwägung gezogen.

Ermittler als Dönerverkäufer. Dabei kann den Polizisten keineswegs Untätigkeit vorgeworfen werden: Bis zu 160 Beamte arbeiteten zeitweise an diesen Fällen, sie werteten 13 Millionen Banktransaktionsdaten aus, 300.000 Hotelübernachtungsdaten, 600.000 Einwohnermeldedaten, die Ermittlungsakten füllen 1500 Ordner. Zeitweise betrieben die Ermittler einen Dönerimbiss in Nürnberg, zahlten keine Rechnungen, in der Hoffnung, dass Erpresser auftauchen würden. Ende 2011 wurde schließlich der NSU entdeckt, samt Bekennervideo zu den Morden. Die beiden mutmaßlichen Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurden nach einem Banküberfall tot aufgefunden, die dritte mutmaßliche Terroristin, Beate Zschäpe, stellte sich der Polizei.

Semiya Şimşek hat in der Zwischenzeit neu angefangen. Die Pädagogin lebt in der Türkei, in jenem Haus, das ihr Vater gebaut hat. „Im Gerichtssaal“, schreibt sie, „werde ich Beate Zschäpe gegenübertreten.“ Ein schwieriger Moment werde das sein, aber ihr Bedürfnis nach Aufklärung sei größer als die Angst.

Der Prozess gegen Beate Zschäpe beginnt am 6. Mai in München.

Das buch

Semiya Şimşek war 14 Jahre alt, als ihr Vater Enver Şimşek im Jahr 2000 ermordet wurde. Zunächst stand ihre Familie im Visier der Ermittler, später wurde der Mord der Drogenszene zugeordnet. Elf Jahre später wurden drei Rechtsextreme als mutmaßliche Täter ausgemacht. In ihrem Buch schildert Şimşek den jahrelangen Spießrutenlauf im Zusammenhang mit den Ermittlungen.

Semiya Şimşek
mit Peter Schwarz:
„Schmerzliche Heimat“, Rowohlt,
272 Seiten; 18,95 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

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