Schund und Sünde in Cannes

FRANCE CANNES FILM FESTIVAL 2013
FRANCE CANNES FILM FESTIVAL 2013EPA
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Das Filmfestival an der Croisette hatte heuer einen seiner besten Jahrgänge. Leider nicht im Wettbewerb. Dort verblüffte nur Jia Zhangke mit „A Touch Of Sin“.

Mit dem Pomp von „Der große Gatsby“ hatten die 66. Filmfestspiele von Cannes programmgemäß eröffnet: Selbst die Leere hinter dem Zeitgeistprunk von Baz Luhrmanns Fitzgerald-Verfilmung passt zum üblichen Bild vom Filmspektakel an der Côte d'Azur – glamouröse Paraden über den roten Teppich, Staraufgebot und französische Eitelkeit auf dem wichtigsten Filmfestival der Welt.

Aber die bleibende Wichtigkeit von Cannes im Zeitalter der im Internet grassierenden Laufbildinflation verdankt sich etwas anderem: Während zwischen Hollywood und kulturell aufgeladener Arthouse-Kinowelt die Filme selbst zusehends zum Anhängsel ausgeklügelter Marketingkampagnen werden, muss sich in Cannes (und Venedig) die Weltspitze des Kinos noch unvermittelt der Kritik stellen.

Die Croisette und der Lido sind also die letzten Plätze, wo die Filme selbst noch als Ereignisse im Mittelpunkt stehen – auch wenn der dekadente Trubel rundherum vonnöten scheint, um in der heutigen Medienwelt noch Aufmerksamkeit zu beanspruchen. So sorgen die üblichen Wetterberichte (heuer: entschieden verregnet) oder aufgeplusterte Chronikgeschichten wie die heuer die Villen verunsichernde Diebesbande vor Ort höchstens für Small Talk. Auch die vermeintlichen Skandale haben wenig Bestand: Lars von Trier, im Vorjahr wegen eines Nazi-Sagers vom Festival verbannt, hätte man heuer natürlich wieder eingeladen, wäre sein neues Opus „Nymphomania“ rechtzeitig fertig gewesen, erklärte Cannes-Direktor Thierry Frémaux der Presse. Ja, man habe ihn offiziell zur „Persona non grata“ erklärt, aber das hätte doch nur für das Vorjahr gegolten...

Polanski und Jarmusch kommen noch

Filmisch war Cannes heuer dafür ein überdurchschnittlich gutes Jahr, sieht man von einem Problem ab: Der Wettbewerb ist als Spekulationsspiel à la Oscar natürlich ein Popularitätsgarant, aber durch die Öffnung in alle Richtungen eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen. Allein arrivierte Namen scheinen als Auswahlkriterium zu gelten, aber die sollen offenbar keine zu großen Experimente wagen: So wird ein stilisierter und fast bis zur Absurdität reduzierter Actionfilm wie „Only God Forgives“, Nicolas Windig Refns Rotlicht-Rachegeschichte aus Bangkok, als Frechheit gewertet, während der zweite Thriller im Wettbewerb – die famose Attentatsverfolgungsjagd „Shield of Straw“ vom Japaner Takashi Miike – als Schund abgetan wird, obwohl hinter seiner Geschichte von Cops, die einen ruchlosen Psychopathen beschützen müssen, dornige Fragen zum Rechtsstaat offenbar werden.

Die Kritikerlieblinge im Wettbewerb sind hingegen diejenigen, die Erwartungen erfüllen: Die US-Brüder Joel und Ethan Coen mit ihrer etwas zynischen Folkszene-Studie „Inside Llewyn Davis“ etwa oder der Iraner Asghar Farhadi, der mit dem Scheidungsdrama „The Past“ eine schwächere Version seines Auslands-Oscar-Siegers „Nader und Simin – eine Trennung “ vorgelegt hat.

Noch bevor mit dem 80-jährigen Roman Polanski („Venus in Furs“) und dem 60-jährigen Jim Jarmusch (die Vampirgeschichte „Only Lovers Left Alive“) heute, Samstag die dienstältesten Teilnehmer eines sichtlich verjüngten Wettbewerbs zum Zug kommen, lässt sich in der Hauptsektion bilanzieren, dass es weder ein durchgängiges Leitthema noch überragende Meisterwerke gab: Allein der Chinese Jia Zhangke, der in „A Touch of Sin“ seine Studien seiner vom Turbokapitalismus überforderten Heimat in Richtung Genrekino erweiterte, verblüffte tatsächlich.

Sonst übten sich bewährte Kräfte in qualitätsvoller Zurückhaltung, sei es der Franzose Arnaud Desplechin mit der englischsprachigen Produktion „Jimmy P.“, die immerhin ein originelles Sujet hat (die Psychoanalyse eines von Benicio Del Toro gespielten Indianers), oder der Japaner Hirozuke Kore-eda, dessen subtiles Drama „Like Father, Like Son“ von zwei Familien erzählt, die nach sechs Jahren erfahren, dass ihre Kinder als Babys vertauscht wurden.

Dafür gab es in den Nebensektionen eine Fülle an außerordentlichen Arbeiten, angefangen mit Claude Lanzmanns österreichisch koproduzierter Dokumentation „Der Letzte der Ungerechten“ über den umstrittenen Wiener Rabbi Benjamin Murmelstein und der surrealen Komödie „Blind Detective“ von Hongkong-Regisseur Johnnie To, in der die absurden Ermittlungen von Asiens Superstar Andy Lau clever das Wesen des Kinos reflektieren – er fühlt sich, oft mit Slapstick-Resultaten, in vergangene Verbrechen ein, indem er sie beharrlich nachspielt.

Das letzte Wort in der Bilderflut: Rithy Panh

Diese beiden Filme liefen außer Konkurrenz, im Zweitbewerb „Un certain regard“ stachen ebenfalls zwei Werke heraus. Das philippinische Epos „The North, the End of History“ von Lav Diaz führt die Geschichte eines Mörders mit derjenigen des an seiner statt Inhaftierten parallel: eine an Dostojewski gemahnende Studie von Schuld und Sühne, die Gesellschaftskritik und weite Landschaftsbilder vereint. Und der Kambodschaner Rithy Panh rekonstruierte in „The Missing Image“ sein Leiden unter den Rothen Khmer mit Tonfiguren-Tableaus und Wochenschauaufnahmen. Was merkwürdig klingt, aber in einem vielschichtigen Arrangement zur berührenden wie bestechenden Erfahrung wird: Panh hat eine schlüssige Methode gefunden, wie man das Unvorstellbare darstellen kann. In der Bilderflut von Cannes hatte er damit das letzte Wort.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2013)

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