Bulgarien: Aufstand gegen Sofias Polit-Kaste

Aufstand gegen Sofias PolitKaste
Aufstand gegen Sofias PolitKaste(c) REUTERS (STOYAN NENOV)
  • Drucken

Nach nächtlichen Zusammenstößen vor dem Parlament wird der Ruf nach Neuwahlen lauter. Seit 41 Tagen protestieren Menschen in Sofia gegen die Regierung.

Belgrad/Sofia. Selbst sorgfältig geschminkte Pensionistinnen recken entschlossen die geballten Fäuste in den Abendhimmel. Trommelschläge, Kuhglocken und das Schrillen der Trillerpfeifen untermalen die Losung, die aus tausenden von Kehlen in Richtung der hohen Fassaden des Regierungspalasts von Sofia schallt: „Ostavka – Rücktritt!“

Seit 41 Tagen ziehen allabendlich tausende Menschen, Nationalflaggen geschultert, durch Bulgariens Hauptstadt. Lautstark fordern die Dauerdemonstranten den Rücktritt der erst seit zwei Monaten amtierenden Mitte-links-Regierung des parteilosen Premiers Plamen Orescharski. Egal, welche Partei an der Macht sei, in Bulgarien regiere seit über zwei Jahrzehnten „nur die Mafia“, klagt der tätowierte Installateur Ziwko Hristow: „Sie tauschen nur die Figuren aus. Aber das Spiel bleibt dasselbe: Man hat als Wähler nur die Wahl, von wem man künftig vergewaltigt werden soll.“

Abgeordnete im Parlament eingeschlossen

Dienstagnacht kam es zu ersten gewaltsamen Zwischenfällen zwischen der Polizei und den aufgebrachten Demonstranten. Insgesamt zehn Menschen wurden bei der nächtlichen Blockade des Parlaments verletzt: Die letzten der 109 eingeschlossenen Abgeordneten und Mitarbeiter konnten die Volksvertretung erst am frühen Morgen verlassen. Die für Mittwoch geplante Parlamentssitzung wurde abgesagt. Vor einer Eskalation der Spannungen warnte Präsident Rossen Plewneliew. Sogar einige sozialistische Abgeordnete sprachen sich vorsichtig für Neuwahlen aus, doch Sozialistenchef Sergej Stanischew lehnte einen Rücktritt der Regierung weiter ab. Neuwahlen änderten nichts, sagte er, und traf damit – wohl unfreiwillig – den Nerv vieler Demonstranten.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr könnte eine Regierung in Bulgarien auf Druck der Straße stürzen. Zu Jahresbeginn war die Empörung über hohe Stromrechnungen der Anlass einer landesweiten Protestwelle, die den rechtspopulistischen Premier, Bojko Borrisow, im Februar vorzeitig aus dem Amt stolpern ließ. Nun ist es der Unmut über Oligarchenmacht und Mafia-Verstrickungen der Politik, der die Massen auf die Straße treibt: Seit die Regierung am 14.Juni ausgerechnet den schillernden Medienmogul Deljan Peewski zum Chef des Geheimdiensts zu küren suchte, kommt das sonst so behäbige Sofia nicht mehr zur Ruhe – trotz späteren Widerrufs der Personalie.

„Es geht nicht um diese oder jene Partei“

Wieso aber rief die Ernennung Peewskis solch heftige Reaktionen hervor? Jeder Bulgare wisse, wer Peewski ist, und seine gescheiterte Ernennung habe illustriert, welche „Machtstrukturen hinter der Regierung“ stehen, erklärt der Politologe Daniel Smilow vom Zentrum für liberale Strategien. Dieselbe wirtschaftliche Gruppe habe schon hinter der Regierung von Borissow gestanden: „Es geht den Demonstranten nicht um diese oder jene Partei. Die Leute wollen ein besseres Bulgarien, eine Demokratie und einen Lebensstandard, der sich am europäischen Maßstab orientiert.“

„Ich bin seinetwegen hier“, sagte der 31-jährige Anton unlängst bei einer Demonstration in Sofia – und zeigte auf seinen einjährigen Sohn im Kinderwagen. Jahrelang habe er sich in seinem eigenen Land „wie in innerer Immigration“ gefühlt, erzählt der bei einer ausländischen Bank beschäftigte Jurist: „Dann ging ich auf die Straße – und merkte, dass ich nicht allein bin. Wir haben eine Zivilgesellschaft, die für rechtsstaatliche Verhältnisse kämpft.“ Das Einzige, was er wolle, sei der Abtritt der Regierung – auch wenn er sich „keinerlei Illusionen“ darüber mache, dass eine nächste Regierung sich kaum von der derzeitigen unterscheiden werde. „Doch unser Protest soll der politischen Klasse eine Lektion sein.“

Ob die angeschlagene Regierung sich noch bis zu den Europawahlen im nächsten Jahr im Sattel hält oder wie von den Demonstranten gefordert noch vor dem Herbst die Segel streicht: Die Tage der derzeitigen Koalition scheinen gezählt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Kommentare

Ein Zauberwort namens „Ostavka“

Bulgarien ist in eine tiefe Krise geschlittert – ein Retter ist diesmal nicht in Sicht. Darin liegt eine Chance.
Außenpolitik

Nach Parlamentsblockade: Bulgarien vor Neuwahlen?

Erstmals sprechen sich sozialistische Abgeordnete für Neuwahlen aus. In der Nacht zum Mittwoch waren die Proteste in Sofia erstmals eskaliert.
Außenpolitik

Bulgarien-Experte Meznik: "Die Gesellschaft ist aus ihrem Tiefschlaf erwacht"

Politologe Michael Meznik sieht in den Protesten eine grundlegende Kritik an den politischen Eliten. Diese kümmerten sich kaum um Bürgeranliegen.
Bulgariens Politiker saßen stundenlang fest.
Außenpolitik

Bulgarien: Politiker saßen stundenlang im Parlament fest

Demonstranten ließen die Politiker nicht aus dem Gebäude. "Wir sind viele, wir sind stark", schrien sie. Der Protest richtet sich gegen die Korruption im Land.
Außenpolitik

Bulgarien: Neuer Geheimdienstchef ernannt

Das Parlament wählte Wladimir Pisantschew zum neuen Leiter der Sicherheitsbehörde Dans. Doch die Proteste in Sofia gehen weiter.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.