Wie man sich das BIP zurechtfrisiert

Analyse. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist keine übertrieben exakte Wissenschaft – und öffnet damit Spielraum für „freundliche“ Gestaltung.

Wien. Die US-Wirtschaft hat gerade einen bemerkenswerten Wachstumsschub hinter sich: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist durch eine neue Berechnungsart (siehe nebenstehenden Bericht) auf einen Schlag um drei Prozent höher als am Dienstag. Das ist praktisch, weil eine Reihe von volkswirtschaftlichen Kennzahlen am BIP bemessen werden – und damit gleich besser aussehen. Eine Staatsschuldenquote von 100Prozent beispielsweise würde sich dadurch auf 97,1Prozent verringern, ohne dass die Schuldenlast auch nur um einen Dollar sinkt.

Der Trick ist allerdings kein amerikanisches Spezifikum: Im kommenden Jahr werden die EU und die anderen europäischen Länder dem US-Beispiel folgen. Ab dann sind die BIP-Zahlen wieder vergleichbar.

Was wie ein billiger Taschenspielertrick aussieht (und im Grunde genommen auch einer ist) hat international Methode: Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) zur Ermittlung der gesamten Wirtschaftsleistung (BIP) ist nämlich keine allzu exakte Wissenschaft. Unter anderem deshalb, weil sich größere Teile nicht exakt statistisch erfassen lassen und deshalb geschätzt werden müssen. Die Schwarzarbeit etwa, die ja auch eine Form der Wirtschaftsleistung darstellt (und Vermögenswerte schafft), mangels Rechnungslegung aber nicht wirklich erfassbar ist. Die erhöht das österreichische BIP beispielsweise um acht, das deutsche aber um 14 Prozent. Woran man schon sieht, wie groß die Spielräume sind, die sich hier auftun.

Oder die sogenannten imputierten Mieten: ein rein fiktiver Wert, der die Mieten umfasst, die Haus- oder Wohnungsbesitzer bezahlen müssten, wenn sie ihre Behausungen gemietet hätten. Die blasen das BIP bei uns immerhin um rund fünf Prozent auf.

Dazu kommt die sogenannte hedonische Berechnung, die Produktverbesserungen „monetarisiert“. Wird ein Computer etwa um 50Prozent billiger, obwohl er um 100Prozent mehr leistet als das Vorjahresmodell, dann geht er mit einem deutlich höheren Preis in die BIP-Berechnung ein.

Es gibt Ökonomen, die schätzen, dass die BIPs der EU-Länder solcherart um gut 20 und das US-BIP um bis zu 30Prozent „aufgeblasen“ sind. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass Verschuldung und Defizite in Relation zum BIP in der Realität viel dramatischer wären als ausgewiesen.

Kaum berührt sind von diesen Methoden die ausgewiesenen realen Wirtschaftswachstumsraten. Um die freundlich zu gestalten, gibt es eine andere „Stellschraube“: Den sogenannten Deflator. Die reale BIP-Wachstumsrate errechnet sich, indem man den Deflator vom ermittelten nominellen Wachstum abzieht. Der ist, weil er externe Daten (etwa die Veränderung des Ölpreises) nicht berücksichtigt, meist deutlich geringer als die offizielle Inflationsrate (die wiederum deutlich niedriger als die tatsächliche „gefühlte“ Alltagsinflation (etwa gemessen am Wocheneinkauf) ist.

All das bedeutet, dass die Zahlen über die Wirtschaftsleistung von Staaten im Regelfall ebenso über der Realität liegen wie die ausgewiesenen Wachstumswerte. Dass es also in der industriellen Welt schon länger kein echtes Wachstum mehr gibt. Damit erklärt sich auch die seltsame Diskrepanz, dass überall in der industrialisierten Welt trotz im Schnitt brauchbarer Wachstumsraten die Arbeitslosigkeit seit Langem permanent steigt und die Realeinkommen bestenfalls stagnieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2013)

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