Buchpreis: Deutschland sucht das Superbuch

Deutscher Buchpreis
Deutscher Buchpreis (c) Erwin Wodicka
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Am Montag wird in Frankfurt am Main der Deutsche Buchpreis vergeben. Sechs Werke stehen auf der Shortlist. „Die Presse“ erlaubt sich vorab eine Bewertung der Romane.

Tod, Selbstmord und niedergedrückte Hinterbliebene – hat die Depression Hochkonjunktur in Deutschland, oder nur bei den Juroren des Deutschen Buchpreises? Die sechs Romane auf der Shortlist des Preises entführen in bedrückende Atmosphären. Die Leser lernen ein verfallenes ostdeutsches Schlosses kennen, das zu einer psychiatrischen Anstalt umfunktioniert worden ist; sie werden durch die Bewusstseinsströme von Prostituierten, Zuhältern und Investoren getrieben, in denen der wiederkehrende Stehsatz „Gebumst wird immer“ noch die tröstlichste Botschaft ist. Ein Arbeitsloser leistet auf einer trostlosen Reise Trauerarbeit, ein Mann und sein Neffe haben ebenfalls einen Suizid zu verkraften. Selbst in Italien geht es um Versäumtes. Und eine Utopie führt schließlich vor, wie brutal in ferner Zukunft ums Überleben gerungen wird.

Eine große, nur zum Teil sich aufhellende Tristesse, die sich trotzdem verkaufen muss – und wird. Denn der Deutsche Buchpreis ist längst ein wichtiger Faktor in den Bilanzen deutschsprachiger Verlage geworden.

Sofort in die „Spiegel“-Bestsellerlisten

Hat es ein Buch einmal auf die Shortlist geschafft, dann wirkt sich das auf den Verkauf aus, allerdings noch nicht gewaltig, vor allem nicht in Österreich. Hier spielt der 2005 initiierte Buchpreis eine kleinere Rolle als in Deutschland. „Die Shortlist macht sich bei den Verkaufszahlen noch wenig bemerkbar“, sagt Philipp Gerger von der Buchhandlung Morawa in der Wollzeile. „Insgesamt bringt eine Shortlist-Platzierung an die ein- bis zweitausend zusätzlich verkaufte Exemplare“, schätzt der Leiter des österreichischen Verlags Jung und Jung, Jochen Jung.

Danach wird es ernst. Mit einer Ausnahme (Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, 2011) ist jedes Siegerbuch sofort in die „Spiegel“-Bestsellerlisten gewandert, darunter auch das des Österreichers Arno Geiger („Es geht uns gut“, 2005) sowie zwei Bücher aus dem österreichischen Jung-und-Jung-Verlag: Ursula Krechels „Landgericht“, das 2012 aus Außenseiterposition gewann, hat sich bis heute in fast 100.000 Exemplaren verkauft. Noch mehr Auflage erzielte Melinda Nadj Abonjis Roman „Tauben fliegen auf“, der 2010 nicht nur den Deutschen, sondern auch gleich den Schweizer Buchpreis erhielt. Dabei seien das düstere Geschichten, die sich gar nicht für den Weihnachtsverkauf eigneten, betont Jung. Auch die österreichischen Buchhandlungen werden auf die Bekanntgabe des Preisträgers am 7. Oktober mit hektischen Großbestellungen reagieren, das bestätigte auch Morawa.

Eine solche Kommerzkarriere hatten nur wenige dem Buchpreis prophezeit, als er 2005 begründet wurde. Geschickt hatte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine Marktlücke gefüllt: Literaturpreise gab es im deutschsprachigen Raum zuhauf, aber keinen mit solcher Inszenierung für ein „Superbuch“, das Lesern und Kritikern gleichermaßen gefallen, Romankunst und Buchhändlern gleichermaßen nutzen konnte. Ein Wettrennen sollte der Kür vorangehen, bei dem jeder wie beim britischen Booker Prize mittels Long- und Shortlist mitfiebern, sich durch die Lektüre des Siegerbuchs als Teil einer neuen deutschen Lesergemeinschaft fühlen konnte.

Mit Mora in den wilden Osten Europas

Auch das Thema muss verbinden. Zeitgeschichte war bisher stark präsent. Viele andere Rücksichten spielen eine Rolle: So kam Daniel Kehlmanns „F“ heuer nicht in die Shortlist – vielleicht auch deswegen, weil bei solchen Bestsellerautoren Aufmerksamkeit und Erfolg ohnehin gewiss sind.

Welches von den sechs wird nun das deutsche Superbuch? Nach Einschätzung der „Presse“ hat die aus Ungarn stammende Autorin Terézia Mora, die seit 1990 in Berlin lebt, große Chancen. Ihr Roman „Das Ungeheuer“ (in der ORF-Bestenliste im Oktober Platz eins) ist ein tiefsinniger Text. Ungewöhnlich seine Form: Die 681 Seiten sind durch horizontale Linien geteilt. Oben erfährt man die Geschichte des Darius Kopp (man kennt ihn bereits aus dem Roman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ von 2009), der seinen Job verloren hat, dessen Frau Flora den Freitod wählte. Bis Seite 82 bleibt der Raum unten leer. Dann setzt dort die ganz persönliche Geschichte der Toten ein. Sie hat ein Tagebuch auf Ungarisch geführt. Kopp lässt es übersetzen, nimmt es auf eine Reise in den Osten mit, auf Spurensuche nach Flora. Die Parallelität, avantgardistisch präsentiert, verknüpft sich, bricht wieder ab. Der Ton: lakonisch. Die Atmosphäre: oft depressiv. Doch stilistisch ist Mora brillant.

Mit Meyer im Rotlichtmilieu

Auch der Roman „Im Stein“ des 1977 geborenen Leipzigers Clemens Meyer scheint gute Chancen zu haben. Als urwüchsiger Großstadtroman, ein „Konzert der Stimmen, das aus dem Fundus der klassischen Moderne schöpft“, als „Porträt einer verrotteten Gesellschaft“ wurde er schon abgefeiert. „Im Stein“ beeindruckt auf den ersten Blick: 500 Seiten lang wird der Leser durch die Bewusstseinsströme von Repräsentanten der sächsischen Sex- und Kommerzunterwelt getrieben, deren Erinnerungssplitter auch die Entwicklung des Rotlichtmilieus in den vergangenen Jahrzehnten Revue passieren lassen. Virtuos vielstimmig ist das Buch, aber ist es auch preiswürdig? Das größte Problem von „Im Stein“: Die Romanfiguren wirken wie Nachfahren literarischer Elendsfiguren – so wie gefühlvolle Schriftsteller sie sich gern imaginieren. Da träumen die Prostituierten von ihrer Kindheit, und der Zuhälter, der fest an seinen heiligen Michael am Hals glaubt, erklärt sich die Tatsache, dass die „Aktie Fick immer oben steht“ mit der „Kälte und Leere da draußen...“ Den Juroren gefiel wohl, dass „Im Stein“ modern wirkt, aber doch auch wieder etwas Gefühliges hat, dass sogar Bildungsbürgerliches durchschimmert. Das Spiel mit Anspielungen erweckt Vertrauen.

Anspielungsreich ist auch die negative Utopie von Reinhard Jirgl, zudem geschliffen und fast barock. Der Berliner Schriftsteller, der 2010 den Büchner-Preis gewann, führt in „Nichts von euch auf Erden“ in die ferne Zukunft. Im 23.Jahrhundert sind Privilegierte zu Mond und Mars aufgebrochen, die Welt war den Ausbeutern zu klein geworden. Im 25.Jahrhundert kehren sie zurück, mit Brutalität wollen sie sich die Erde wieder untertan machen. Ein komplexes, schwieriges Buch eines Sprachkünstlers. Doch hat solcher Feingeist Chancen auf einen Preis, der auf die Popularität von Büchern abzielt?

Mit Poschmann in die Nervenheilanstalt

Eine großartige, vielleicht für den Buchpreis ebenfalls zu anspruchsvolle Lektüre ist Marion Poschmanns Roman „Die Sonnenposition“, der eben den mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Preis erhalten hat. Hauptschauplatz ist ein zur Nervenheilanstalt umfunktioniertes verfallendes Schloss in Ostdeutschland, im Mittelpunkt steht die Aufarbeitung der Beziehung des dort als Arzt arbeitenden Erzählers zu seinem verstorbenen Freund. Allein wie Poschmann, die als Lyrikerin angefangen hat, die Motive von Sonne und Licht in den Roman hineinwebt, macht „Die Sonnenposition“ zu großer Literatur.

Leichter liest sich Marko Bonnés „Nie mehr Nacht“ über einen Mann, der nach dem Tod seiner Schwester depressiv wird und durch eine Normandie-Reise mit deren Sohn zum Leben zurückfindet. Dieser Roman hat trotz eines allzu gefügigen Endes Aufmerksamkeit verdient, wenn auch vielleicht nicht die der geballten deutschen Buchwelt.

Und Monika Zeiners „Die Ordnung der Sterne über Como“? Das ist das größte Zugeständnis der Jury an die Unterhaltungsliteratur: ein Roman über Liebe und Tod und eine Dreiecksbeziehung in Italien mit altbekannten Lebensweisheiten („Je älter du wirst, desto mehr Türen fallen zu, Wege verschwinden, sind einfach nicht mehr da“) und einem Schluss, den man getrost verraten darf, ohne etwas zu verraten: „Er wusste nicht, wohin es fahren würde. Es war ihm egal. Irgendwo würde er ankommen.“

DIE SHORTLIST ZUM BUCHPREIS

Sechs Romane wurden von einer siebenköpfigen Jury aus einer Longlist von 20 Büchern für den Deutschen Buchpreis nominiert. Von 101 Verlagen waren zuvor 164Titel eingereicht worden. Unter den Finalisten sind dieses Jahr keine Österreicher und Schweizer. Der Preis wird vom Börsenverein für den Deutschen Buchhandel zum neunten Mal vergeben. Zur Auswahl stehen:

Terézia Mora: „Das Ungeheuer“ (Luchterhand)

Marion Poschmann: „Die Sonnenposition“ (Suhrkamp)

Monika Zeiner: „Die Ordnung der Sterne über Como“ (Blumenbar)

Mirko Bonné: „Nie mehr Nacht“ (Schöffling & Co.)

Reinhard Jirgl: „Nichts von euch auf Erden“( Hanser)

Clemens Meyer: „Im Stein“ (S. Fischer)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2013)

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