Das Massensterben im Mittelmeer beenden

Lampedusa
Lampedusa(c) EPA (MALTA NAVY PRESS OFFICE / HANDOU)
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Die EU braucht ein solidarisches Asylsystem, in dem die Versorgung und Verantwortung für Schutzsuchende auf alle EU-Staaten aufgeteilt wird, statt die Außengrenzen dicht zu machen und die Zugbrücken für Flüchtlinge hochzuziehen. Gemeinsam schaffen wir das, es liegt (auch) in unserer Hand.

Der Tod von Flüchtlingen aus Syrien, Somalia und Eritrea an den EU-Außengrenzen beschäftigt seit zwei Wochen die europäische Öffentlichkeit. Damit wir die Relationen, wie viele Flüchtlinge in der EU ankommen und wie viele in den Krisenregionen selbst Aufnahme finden, begreifen:

Allein vier Nachbarländer Syriens, nämlich der Libanon, der Irak, Jordanien und die Türkei – die nicht gerade zu den reichsten Ländern der Welt zählen – haben in den letzten zwei Jahren zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Gemeinsam weisen diese Länder eine Bevölkerung von 117 Millionen Menschen auf.

In der EU, die eine Gesamtbevölkerung von über 500 Millionen hat, wurden letztes Jahr 332.000 Asylanträge gestellt, nicht nur von syrischen, sondern auch von internationalen Schutzsuchenden. Trotzdem drängt der Mainstream der EU-Politik seit Jahren auf immer stärkere Abschottung vor Flüchtlingsbewegungen. Zwar sagt die EU, „wir halten Menschenrechte hoch, ihr könnt bei uns Schutz vor Verfolgung bekommen“. Sie hat aber faktisch die Zugbrücke hochgezogen, denn eine legale Einreise ist kaum möglich. Der Schutz ist damit in den meisten Fällen unerreichbar weit weg. Mit Abfangaktionen auf hoher See soll nun auch sichergestellt werden, dass Flüchtlinge noch vor der Zugbrücke abgefangen und zurückgeschickt werden.

Das Sterben im Mittelmeer ist leider nicht neu: Wir beschäftigen uns in der parlamentarischen Versammlung des Europarats gerade mit den Geschehnissen rund um ein Flüchtlingsboot, das im März 2011 Tripolis, Libyen, mit 72 Flüchtlingen verließ. Nach einer Irrfahrt von zwei Wochen im Mittelmeer, in dem das havarierte Boot trotz der Begegnung mit mehreren Schiffen und Hubschraubern keine lebensrettende Hilfe erhielt, gab es nur noch neun Überlebende. Allein 2011 starben mindestens 1500 Menschen beim Versuch der Überquerung des Mittelmeeres.


Millionen für Grenzüberwachung. Die Reaktion von EU-Staatschefs und EU-Innenministern auf die jüngsten Todesfälle knapp vor Lampedusa ist nicht nur unbeholfen, sondern in ihren Folgen leider auch zynisch: Weder der erste Gedanke nach dem Tod von über 300 Flüchtlingen noch der zweite war, die Rettung von Leben und den Schutz vor Verfolgung zu verbessern, sondern die Grenzen dichter zu machen. In den nächsten Jahren sollen daher über 240 Millionen Euro in das neue Grenzüberwachungssystem Eurosur investiert werden.

Der Antrag der Grünen im Europäischen Parlament, die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer als eines der Ziele von Eurosur festzuschreiben, wurde abgelehnt. Erst nach einem großen öffentlichen Aufschrei, dass EU-Regierungen trotz anderslautender Ankündigungen nach dem Tod von hunderten Flüchtlingen wieder zur Tagesordnung übergehen wollen, wurden mehr lebensrettende Aktivitäten im Mittelmeer angekündigt. Das macht deutlich, dass die Krokodilstränen vieler EU-Regierungschefs und -Innenminister für die Öffentlichkeit gedacht sind, das eigentliche Ziel von Eurosur aber weiterhin die Grenzüberwachung zwecks Abwehr bleiben soll.

Das EU-Asylsystem ist auch unsere Verantwortung. Es liegt vor allem am Rat der Innenminister, die Asylpolitik der EU zu reformieren. Innenministerin Mikl-Leitner blockiert seit Jahren gemeinsam mit dem deutschen Innenminister eine Reform des problematischen Dublin-Systems, das die Versorgung von in der EU ankommenden Flüchtlingen auf EU-Länder an der Außengrenze abwälzt. Denn diese sind laut Dublin II faktisch für alle auf dem Land- oder Seeweg in der EU Ankommenden zuständig, während andere EU-Länder nur jene versorgen müssen, die es bis dorthin – meist über den Luftweg – schaffen. Dieses System führt zu solchen Absurditäten, wie etwa dass 500 in Tirol aufgegriffene syrische Flüchtlinge nach Italien abgeschoben werden, während die Bundesregierung feierlich verkündet, sie werde 500 syrische Flüchtlinge in Österreich aufnehmen. Das Dublin-System ist teuer, ineffektiv und produziert unnötige Bürokratie, es schiebt Schutzsuchende wie eine heiße Kartoffel von einem EU-Land ins nächste. Es gehört geändert.

Was wir stattdessen brauchen ist ein solidarisches Asylsystem, das die Versorgung und Verantwortung für Schutzsuchende gerecht auf alle EU-Länder aufteilt.

So lange wir als Land an der EU-Außengrenze waren, haben österreichische Innenminister und Bundesregierungen verständlicherweise nach europäischer Solidarität gerufen und betont, dass wir immerhin nicht allein alle ankommenden Schutzsuchenden versorgen können. Mittlerweile sind wir in die Mitte der EU gerückt und auch jetzt sagt die Innenministerin, dieses System sei in Ordnung und es gäbe keinen Änderungsbedarf.


Vorschläge für Auswege aus der Misere:


1) Das absurde, teure und Leid produzierende Dublin-System ändern. Es braucht eine solidarische Aufteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder entsprechend einem Verteilungsschlüssel nach Einwohnerzahl und Bruttoinlandsprodukt. Die größeren EU-Länder sollen – ihrer Bevölkerungsgröße entsprechend – mehr Flüchtlinge aufnehmen als kleinere, EU-Länder mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt etwas mehr als jene mit einem niedrigen. Mit einem klaren Verteilungsschlüssel gibt es für manche EU-Länder keinen Anreiz mehr, wie jetzt, sich an anderen Ländern abzuputzen und Flüchtlinge durch Nichtbetreuung und Verelendung zum Weiterwandern in ein anderes EU-Land wie Deutschland oder Schweden zu zwingen.

2) Solange alle Wege für eine legale Einreise in die EU für Verfolgte und Flüchtlinge versperrt sind, werden diese weiterhin auf bezahlte Fluchthelfer und Schlepper angewiesen sein. Die Flüchtlingsabwehrpolitik der EU in den vergangenen Jahren hat das Schleppergeschäft erst groß gemacht. Will man das ändern, muss man zu einer Praxis zurückkehren, die bis 2003 ganz normal war: Bis dahin konnten Verfolgte bei österreichischen Botschaften im Ausland einen Asylantrag stellen. Das Formular und die Dokumente wurden an das Bundesasylamt nach Österreich geschickt. Nach einer Kurzüberprüfung hat das Asylamt eine Einschätzung an die Botschaft geschickt und wenn die Asylgewährung wahrscheinlich war, wurde ein Visum für die legale Einreise zwecks Asylverfahrens ausgestellt.


Abhängigkeit von Schleppern. Schafft man als EU eine legale Einreisemöglichkeit für Verfolgte, beendet man auch die Abhängigkeit der Flüchtlinge von Schleppern. Die EU-Vertretungsbehörden im Ausland wären für die Einbringung von Anträgen zuständig. Die Betroffenen müssten dann nicht mehr das gesamte Hab und Gut ihrer Familie verkaufen, um hohe Summen an Schlepper zu zahlen, und sich dann auch noch auf lebensgefährliche Wege zu begeben. Es ist möglich und notwendig, das Massensterben im Mittelmeer zu beenden. Das liegt (auch) in unserer Hand.

zuR AutorIN

Alev Korun,
geboren 1969 in Yenisehir in der Türkei, ist seit 2008 Nationalratsabgeordnete der Grünen. Nach dem Studium der Politikwissenschaften in Innsbruck und Wien war sie ab 1993 bei der Rechts- und Sozialberatung für Migranten tätig, danach Fachreferentin im Parlamentsklub der Grünen. Ab 2005 gehörte Korun drei Jahre dem Wiener Gemeinderat an.
APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2013)

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