Precht: "Macht ohne Missbrauch verliert ihren Reiz"

David Precht
David PrechtFlorian Lechner
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Politiker denken nicht über die Zukunft nach, haben weder Vision noch Haltung, sagt der deutsche Philosoph Richard David Precht. Er selbst hat viele Kritiker. Ihr Antrieb sei Neid, sagt er – fast verständnisvoll.

Vor den Wahlen in Deutschland haben Sie einen Essay geschrieben, in dem Sie kritisieren, dass die Politik kein Ethos mehr kennt. Und Sie attestieren traurig den kollektiven Verlust der Utopiefähigkeit.

Richard David Precht: Nein, nicht traurig. Der Verlust der Utopie ist ja nicht aus ethischen Gründen zu bemängeln. Aber wir stehen vor wichtigen Fragen, für die wir Utopiefähigkeit brauchen. Die Politik ist langweilig geworden.

An welche wichtigen Fragen denken Sie?

Wie gehen wir mit den digitalen Supermächten um, die unser Leben verändern, den Spekulationen der Finanzwirtschaft, und was ist mit der Europafrage? Die Finanzmärkte bekommen wir nur in den Griff, wenn wir europaweit schlagkräftig sind. Nur dann werden wir auch mit den digitalen Mächten konkurrenzieren können.


Wenn Sie von digitalen Supermächten sprechen, denken Sie an Google, Facebook...?

Ja. Die Macht von Google kann man sich vorstellen. Die haben mehr Daten als der Rest der Welt. Die könnten enorme Datenmengen verkaufen, wollen das aber gar nicht. Google hat erst jüngst eine Banklizenz beantragt. Die werden sicher an der Börse spekulieren, die kennen ja jeden und alles. Das wird eine Superbank, eine reine Spekulationsbank. Die kennt jede wirtschaftliche Bewegung und kann damit quasi die Zukunft vorhersagen. Das wird der unfairste Mitspieler, den es je an der Börse gegeben hat. Und das ist keine Verschwörungstheorie.


Klingt ein bisschen so.

Nein, ist es nicht. Ich glaube nicht an das Weltböse. Aber Macht ohne Missbrauch verliert ihren Reiz! Wenn Sie Macht haben, müssen Sie überlegen: Was ist jetzt die neue Herausforderung für mich? Jetzt wird die Welt der digitalen Supermächte mit jener der Finanzwelt verknüpft. Was da entsteht, ist wahnsinnig brisant.

Und was wird entstehen?

Das wird nicht die Weltherrschaft von Google in den nächsten 100 Jahren bedeuten, aber es werden die gesamten Spielregeln an den Finanzmärkten kannibalisiert werden, und zwar komplett. Das ist spannend, es passieren gigantische Dinge in rasanter Geschwindigkeit, die gewaltige Auswirkungen haben werden, aber die die Politik überhaupt nicht interessieren.

Wieso interessiert es die Politiker nicht?

Weil sie es gar nicht verstehen. Sie kommen im täglichen Leben auch gar nicht damit in Berührung. Sie sind mit dem Tagesgeschäft beschäftigt, schütteln tausende Hände und befassen sich nur mit dem Status quo. An die Zukunft denken sie vielleicht fünf Minuten, bevor sie einschlafen oder wenn sie mit Leuten wie mir reden. Aber im Grunde findet die Welt der Politik nicht mehr mit jener der Gesellschaftswissenschaften zusammen.

Woran liegt das?

Im angloamerikanischen Raum gibt es in den Sozial- und Geisteswissenschaften das Credo, nicht mehr zu werten, sondern lediglich Informationen für jene, die entscheiden, zur Verfügung zu stellen. Und dieses Credo haben auch wir übernommen. Es gibt in dem Sinne keine deutschen Gesellschaftswissenschaften mehr. Allein die Art, wie die Texte geschrieben sind! Sie sind alle standardisiert, so wie in den Naturwissenschaften. Daher fehlt der Witz, der Stil, es gibt keine Doppeldeutigkeiten. Es sind Fachabstracts ohne Geist.

Es fehlt also an den Impulsen und Ideen von Politologen, Soziologen und Kulturwissenschaftlern ?

Ja. Die Geisteswissenschaften bilden auch schon lange keine neuen Theorien mehr aus. Die letzte maßgebliche war die Systemtheorie von Luhmann. Das ist aber schon gut 30 Jahre her. Stattdessen sind die Leute an den Universitäten damit beschäftigt, zu messen und zu quantifizieren. Das ist enorm anstrengend. Für die Deutung oder gar eine Theorie fehlt es an der Kapazität. Und noch etwas spielt eine Rolle: Wenn Sie werten, verlassen Sie sicheren Boden, Sie machen sich angreifbar. An den Universitäten herrscht eine enorme Angstkultur. Jemandem, der sich aus dem Fenster lehnt, ist der Argwohn der Kollegen sicher.

Das klingt ja, als gäbe es vor allem profillose Wissenschaftler.

Natürlich sind das nicht alle. Doch wenn die Profillosen in der Mehrheit sind, ist es immer schwierig für die Profilierten, sich von der Mehrheit abzusetzen, ohne dabei ihre Reputation zu verlieren. Bei den Politikern ist das nicht anders.

Erwarten die Menschen von den Politikern überhaupt Visionen?

Ja, das konnte man an Karl-Theodor zu Guttenberg sehen. Der hatte zwar keine Visionen, aber den Flair des Visionärs. Der hätte Kanzler werden können. Er hat die Sehnsucht nach Visionen in den Leuten geweckt, weil er anders war. Natürlich haben auch die gegelten Haare und der royale Kitsch das Ihre dazu beigetragen. Bei Jörg Haider war das auch so. Der stand dafür, die unangenehme Wahrheit beim Namen zu nennen. Dabei war er eine durch und durch korrupte Figur, aber das wollten die Leute nicht sehen. Interessant ist, dass es solche Phänomene nur von rechts gibt.

Wieso nur von rechts?

Von rechts kann man leichter blenden. Aber von den wenigen Extremen abgesehen, kann man zwischen den Haltungen von linken und rechten Volksparteien kaum noch einen Unterschied feststellen. Die SPD ist nicht links, die CDU nichts rechts. Wenn man regiert, will man es doch allen recht machen, um wiedergewählt zu werden.

War das früher anders?

Also ob Helmut Schmidt oder Franz Josef Strauß das Land regiert, hat einen riesigen Unterschied gemacht. Oder Willy Brandt oder Rainer Barzel. Aber heute ist die Gestaltungsmacht auch geringer als damals. Vieles wird ja nicht mehr auf nationaler, sondern auf EU- Ebene entschieden. Politiker blähen sich nur gern auf wie Dinosaurier und sind doch nichts anderes als eine Mücke. Es spielt aber noch etwas anderes eine Rolle.

Und zwar?

Die Politikerkaste kennt sich gut, die leben in derselben Welt, und ihre Kinder besuchen dieselben Schulen. Und es ist schön, dazuzugehören und an der Macht zu sein. Hinausfliegen ist nicht schön. Daher liegt einem der Kompromiss sehr nahe, wenn man seine Rolle behalten kann. Für eine Haltung zu stehen, etwas zu tun, weil man davon überzeugt ist, auch wenn drei Viertel Deutschlands dagegen sind, das gibt es heute nicht mehr. Eine Haltung ist hinderlich, wenn Sie in einer Partei hochkommen wollen. Alternde Systeme begünstigen Konformismus und Opportunismus. In Unternehmen ist das übrigens nicht anders. Dort sehen alle gleich aus, alle lächeln gleich, alle betonen gleich, alle sind austauschbar. Das liegt aber nicht nur an den Personen, sondern an den Erwartungen an sie. Ich hätte weder in der Politik noch in der Wirtschaft Karriere gemacht.

Dann haben Sie für sich ja einen guten Weg gefunden.

Das war ein großes Glück, dass ich einen Pfad abseits der etablierten Routen gefunden habe.

Wie haben Sie ihn gefunden?

Durch Elke Heidenreich. Die hielt in ihrer Literatursendung mein Buch in die Höhe (Anm.: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“) und sagte: „Wenn Sie das lesen, werden Sie glücklich!“ Danach war das Buch in keinem Laden mehr zu kaufen, und ich wurde auf einmal jede Woche in TV-Shows eingeladen. Das war schon verrückt und spooky.

Bei Ihrem ersten großen Erfolg waren Sie schon fast 45 Jahre alt, hatten schon fünf Bücher geschrieben. Kamen Ihnen nie Selbstzweifel?

Es war schwer, auch wenn ich schon wusste, dass ich etwas kann. Aber es gab für mich nicht die Option, meinen Weg zu verlassen, weil es keinen anderen Beruf für mich gegeben hätte. Und darum habe ich Bücher und Artikel im Feuilleton geschrieben. Das Interessante ist, dass jene Leute, denen es heute so ergeht, wie es mir damals ergangen ist, jene sind, die im Feuilleton heute über mich Gift und Galle spucken. Aber ich verstehe sie. Das heißt, ich weiß, wie es ihnen geht. Die fragen sich alle: Warum der und nicht ich?

So viel Verständnis für die eigenen Kritiker?

In den Feuilletons gibt es die übelsten Artikel über mich. Doch ich kann damit umgehen, weil ich weiß, was Neid ist. Aber ich möchte mit meinen Kritikern nicht tauschen.

Steckbrief

1964 wurde Richard David Precht in Solingen geboren. Er studierte in Köln Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte.

2007 landet Precht mit seinem Buch „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ seinen ersten großen Erfolg. Zuvor hatte er schon fünf Bücher verfasst und Essays für deutsche Zeitungen und Zeitschriften geschrieben.

2013 erschien sein Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2013)

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