Pop

Arcade Fire: Ja, Orpheus darf sich umdrehen

´Auf dem Cover von „Reflektor“: „Orpheus und Eurydike“ von Rodin.
´Auf dem Cover von „Reflektor“: „Orpheus und Eurydike“ von Rodin.(c) Universal
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Arcade Fire, die wichtigste heutige Band, hat ihr viertes Album „Reflektor“ veröffentlicht. Wieder mit großen Themen: Existenz, Identität – und der Frage nach einem Jenseits.

Ein nacktes Paar. Sie umfängt ihn von hinten, er hält sich die Hand vor die Augen. Er ist der Sänger Orpheus, sie ist seine Frau, die Nymphe Eurydike, der er in die Unterwelt gefolgt ist, um sie zurückzuholen. Er darf sich nicht umdrehen, er wird sich doch umdrehen – und sie verlieren.
Das weiß man, aber auf der rätselhaften Skulptur von Auguste Rodin (1893), die Arcade Fire auf das Cover ihres vierten Albums „Reflektor“ getan haben, sieht man das nicht. Hier scheint eher Eurydike den Orpheus festzuhalten, und er verbirgt seinen Blick, als schämte er sich zu gestehen, dass er doch wieder hinauf ans Licht will . . .

„Afterlife“, heißt es in einem zentralen Song auf dem Album, „oh my god, what an awful word. After all the breath and the dirt, and the fires are burnt.“ „Awful“: Das Wort ist zweideutig, es hieß ursprünglich „ehrfurchtgebietend“, heute bedeutet es eher „schrecklich“. Arcade Fire, nicht nur die wichtigste, sondern auch die klügste Popband unserer Tage, weiß auch das. Dieses kanadische Kollektiv hat sich von Beginn an den großen Themen verschrieben: Ihr erstes Album „Funeral“ (2004) befasste sich mit Freundschaft, Familie und Tod, „Neon Bible“ (2007) mit Religion und Seele, „Suburbs“ (2010) mit Jugend und Erinnerung.

Schluckt die Kamera die Seele?

Arcade Fire tauchen unter
Arcade Fire tauchen unter(c) Universal Music (Junior Downs)

Auf „Reflektor“ geht's nun um Existenz, Identität, darum, was von einer Person bleibt. Im Himmel und auch auf Erden. „Just wait until it's over“, singt Régine Chassagne in „It's Never Over (Hey Orpheus)“, „Now that it's over, now that you're older, then you will discover that it's never over“, antwortet ihr Ehemann Win Butler, und ganz am Schluss singen sie gemeinsam: „Oh Orpheus, it's over too soon. Eurydice, it's over too soon.“

Das Album ist voll solcher Wendungen, Entwicklungen, Paradoxien, beunruhigender Fragen: Was, wenn die Kamera wirklich deine Seele schluckt? Wenn es keine Musik im Himmel gibt, wofür ist er dann gut? Wohin gehen wir? Ist das das Jenseits? Arcade Fire haben dafür eine neue musikalische Form entwickelt: Die ekstatischen Steigerungen, auf die sie sich verstehen (und die ihre Musik für oberflächliche Hörer so schwer erträglich machen), sind langsamer geworden, die Rhythmen verspielter, von Folk-Einflüssen hört man fast nichts mehr, die Ziehharmonika muss schweigen. Als Produzent wirkte James Murphy, der sich als Musiker mit seinem LCD Soundsystem dem Post-Punk seiner frühen Jahre verschworen hatte und in seinen besten Momenten klang wie die Talking Heads auf „Remain In Light“.

Wenn „Reflektor“ an irgendetwas erinnert, dann an dieses Album. Wie die Talking Heads damals (1980), so entdecken Arcade Fire jetzt die Ewigkeit des Dancefloors: Wenn der Groove einmal da ist, kann er dauern. Und wenn er vorbei ist, ist er doch noch nicht vorbei, steigert sich noch einmal, wie in „Here Comes The Night“, in das sich nach viereinhalb Minuten ein rasender Beat einschleicht und ein Bläsersatz, der zu illustrieren scheint, was Butler singt: „If you're looking for hell, just try looking inside.“

All das und mehr erschließt sich erst nach mehrfachem Hören. Am ehesten sofort eingängig sind „We Exist“ mit seinem geschmeidigen Disco-Bass und „Joan Of Arc“, das als Punk beginnt, aber rasch in einen dumpf stampfenden Glitterrock-Rhythmus mündet, wie ihn die Post-Punk-Generation einst wiederentdeckt hat. Dazu passt ein fast schon ironischer Chor: „Jeanne d'Arc, ah ooh“.

Retro-Retro also? Die Band, die als einzige Band der Nullerjahre eine ganz neue, bis dahin unerhörte Intensität entwickelte, blickt jetzt auch zurück in die Popgeschichte? Ja. Das tut sie. Aber erstens tut sie's auf sehr eigenständige Weise. Und zweitens muss sie es programmatisch tun. Schließlich ist Orpheus eine zentrale Figur im Mythengeflecht dieses Albums, und der hat sich bekanntlich doch umgedreht. Dem Rückblick entkommt der Pop nicht; wir können damit leben, wenn er – ja, das aufgelegte Wortspiel passt – so reflektiert ist wie auf „Reflektor“.

Dafür steht auch der würdige Alte, den Arcade Fire im Titelsong auftreten lassen: „Thought you were praying to the resurrector“, singt David Bowie, „turns out it was just a reflector.“ Davor haben Arcade Fire die eigene Produktion reflektiert: „Our song it skips on little silver disks.“ Das immerhin ist kokett: „Reflektor“ ist ein Album, das als Album funktioniert als in eine Idee gebundene Sammlung von Songs. Ein großartiges Album.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2013)

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