Gastkommentar

Entführung im Namen des Heils?

Peter Kufner
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Der Fall Mortara. Jüdische Intellektuelle appellieren an Papst Franziskus, die Lehre über die Nottaufe zu revidieren.

Der Oberrabbiner von Rom, Riccardo Di Segni, und einige Intellektuelle Italiens haben im Juni einen Appell an Papst Franziskus gerichtet, er solle das Kirchenrecht ändern. Ein Paragraf des kanonischen Rechtes – can. 868 § 2 – sieht vor, dass Kinder in Todesgefahr auch gegen den Willen ihrer Eltern getauft werden können. Das weckt im kollektiven Gedächtnis von Juden beklemmende Erinnerungen an Zwangstaufen und Kindesentführungen.

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Besonders spektakulär ist der Fall Mortara. In einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Bologna hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein katholisches Dienstmädchen gearbeitet. Als der Sohn Edgardo Mortara erkrankt ist, hat Anna Morisi, das Dienstmädchen, heimlich und ohne Zustimmung der Eltern eine Nottaufe vorgenommen. Als Morisi dies einige Jahre später Freunden erzählte und ein Priester der Inquisition davon erfuhr, wurde die päpstliche Polizei 1858 angewiesen, den sechsjährigen Knaben aus der jüdischen Familie zu entführen und in ein katholisches Waisenhaus zu bringen. Der Auftrag erfolgte auf der Basis des damaligen Staatskirchenrechts, nach dem ein getauftes Kind nicht durch Nichtchristen erzogen werden durfte.

„The Kidnapping Pope“

Papst Pius IX. (1846–1878) hat die Entführung – trotz Einspruchs der Familie und vehementer Proteste der liberalen Presse – verteidigt und Edgardo Mortara höchstpersönlich unter seine Fittiche genommen. Der unfreiwillige Konvertit, der in Rom katholisch sozialisiert und großgezogen wurde, ist später in den Orden der Augustiner-Chorherren eingetreten, zum Priester geweiht worden und hat in Belgien bis 1940 als Geistlicher gelebt und gewirkt.

Pius IX. ist für sein gebrochenes Verhältnis zu den modernen Freiheitsrechten bekannt. In seinem „Syllabus errorum“ von 1864 hat er ein Bollwerk gegen den Liberalismus aufgerichtet. Im Fall Mortara wertete er das Dogma von der Heilsnotwendigkeit der Taufe höher als die Religions- und Gewissensfreiheit sowie das Recht jüdischer Eltern auf Erziehung ihrer Kinder. Obwohl sich im Hochmittelalter bereits Thomas von Aquin gegen die Taufe von jüdischen Kindern gegen den Willen ihrer Eltern ausgesprochen hatte, hielt Pius IX. unnachgiebig an seiner Haltung fest. Schon 1850 hatte er das Judenghetto in Rom wieder errichten lassen und den Talmud auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Interventionen der Regierungen Frankreichs, Englands und Österreichs beim Heiligen Stuhl, den gekidnappten Edgardo Mortara seiner Familie zurückzugeben, ließen ihn unbeeindruckt. Die Folge war, dass sich Frankreich als Schutzmacht des Kirchenstaates zurückzog und der Papst nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 das Territorium nicht mehr halten konnte. In jüdischen Kreisen hat Pius IX. bis heute den Namen „The kidnapping Pope“.

Der Fall Mortara ist im Medium von Literatur und Film wiederholt aufgegriffen worden. Auf der Basis der historischen Fakten ist im Frühjahr in Italien von Daniele Scalise der Roman „Un posto sotto questo cielo“ erschienen. Wenig später kam das historische Filmdrama „Rapito“ von Marco Bellocchio in die Kinos. Für das Jahr 2026 ist von Steven Spielberg der Film „The Kidnapping of Edgar Mortara“ angekündigt. Die erneute Präsenz des Themas hat den Oberrabbiner von Rom und weitere Intellektuelle, darunter Elèna Mortara Di Veroli, eine Nachfahrin der betroffenen Familie, veranlasst, den Appell an Papst Franziskus zu richten.

Kann nach der Shoah und nach dem II. Vatikanischen Konzil die alte Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Taufe so strikt aufrechterhalten werden? Kann die Sorge vor dem ewigen Heilsverlust als theologisches Argument dafür angeführt werden, dass nach dem kirchlichen Kodex auch heute noch Kinder in Todesgefahr gegen den Willen ihrer Eltern getauft werden?

Papst Franziskus, der schon als Erzbischof von Buenos Aires ein freundschaftliches Verhältnis zum dortigen Rabbiner, Abraham ­Skorka, pflegte und für seine dialogoffene Haltung zum Judentum bekannt ist, hat in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ (2020) zwischen Evangelisierung und Proselytismus unterschieden. Das werbende Zeugnis für das Evangelium begrüßt er, subtile Vereinnahmungsstrategien oder gar Proselytenmacherei, die die Freiheit des Adressaten überspielt, lehnt er entschieden ab. Insofern wird der Papst persönlich sofort bereit sein, von einer exklusiven Deutung der Heilsnotwendigkeit der Taufe abzurücken. Ob er den Paragrafen im Kodex des kanonischen Rechts amtlich revidieren wird, steht allerdings dahin.

Franziskus sieht sich durch den Appell vor ein theologisches Dilemma gestellt. Auf der einen Seite steht eine jahrhundertealte Lehrtradition, die unter Rückgriff auf einige Stellen der heiligen Schrift die Heilsnotwendigkeit der Taufe einschärft. Noch im Katechismus der Katholischen Kirche (1992) unter der Nummer 1257 steht: „Der Herr selbst sagt, dass die Taufe für das Heil notwendig ist.“ Wenn Franziskus die Bedeutung der Taufe relativiert und mit Pius IX. einen seiner Vorgänger auf der Cathedra Petri korrigiert, wird er innerkirchlich konservative Kritiker auf den Plan rufen, welche die päpstliche Lehrkontinuität einfordern und davor warnen, die universale Heilsbedeutung Jesu Christi abzuschwächen. Auf der anderen Seite provoziert er, wenn er den Paragrafen des Kodex irritationsresistent beibehält, jüdischerseits die Rückfrage, ob seine Ablehnung des Proselytismus wirklich ernst gemeint bzw. seine judenfreundliche Haltung nicht letztlich nur kosmetisch ist. Auf der ­Basis der heilsuniversalistischen Wende der katholischen Theologie, die durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) amtlich vollzogen wurde, könnte er allerdings seinerseits den Katechismus zitieren und sagen: „Gott hat das Heil an das Sakrament der Taufe gebunden, aber er selbst ist nicht an seine Sakramente gebunden.“ Im jüdisch-christlichen Dialog kann überdies auf die Theologie des Apostels Paulus verwiesen werden, der in seinem Brief an die Römer von der Rettung ganz Israels bei der Parusie Christi spricht (vgl. Römer 11,26). 

Papst hat noch nicht reagiert

Elèna Mortara Di Veroli, Professorin für englische Literatur an der Tor-Vergata-Universität in Rom, hat sich bereits 2021 auf die Enzyklika „Fratelli tutti“ bezogen und daran erinnert, dass das Wort „davar“ im Hebräischen sowohl „Wort“ als auch „Sache“ bedeutet. Mit Blick auf Papst Franziskus und seine Betonung der Geschwisterlichkeit aller Menschen hat sie notiert: „Ein mutiger und innovativer Papst würde diesen Übergang vom gesprochenen Wort zur realisierten Sache bei einem so grundlegenden Thema wie der menschlichen Brüderlichkeit verwirklichen. Die Zwangstaufe von Kindern gegen den Willen ihrer Eltern aus Angst vor der ewigen Verdammnis ihrer Seelen zu legalisieren, ist eine gefährliche und heute inakzeptable Praxis.“ Recht hat sie. Noch hat Papst Franziskus auf den Appell nicht reagiert. Ob der Pontifex den Mut hat, die Konsequenzen zu ziehen und den Paragrafen des Kirchenrechts zu revidieren, bleibt abzuwarten. Zu wünschen wäre es. Die Provokation des Evangeliums aber, dass es an Jesus Christus vorbei auch für Juden kein Heil gibt, müsste Franziskus nicht einklammern, er könnte sie getrost der Weisheit des göttlichen Heilsplans überlassen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Jan-Heiner Tück (*1967 in Emmerich, Deutschland) ist Professor am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien. Zuletzt von ihm erschienen: „Jesus – der Messias Israels?“ (Herder, 432 Seiten).

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