Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld: "Das war kein Rachefeldzug"

Beate Klarsfeld
Beate KlarsfeldDie Presse
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Sie ohrfeigte einen Kanzler und kooperierte mit DDR und Mossad. Ein Gespräch mit Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld.

Sie sind berühmt dafür geworden, Nazi-Verbrecher zu entlarven und vor Gericht zu bringen. Ihre Eltern waren nicht schuldhaft verstrickt und auch keine Opfer. Was hat Sie dazu veranlasst, sich derart zu engagieren?

Beate Klarsfeld: Mein Vater war kein Nazi, aber Wehrmachtsangehöriger. Er hatte Glück, dass er nicht nach Russland geschickt wurde. 1945 war die Familie wieder zusammen. Was wunderbar war, denn viele meiner Klassenkameraden hatten ihre Väter verloren. Meine Eltern haben wahrscheinlich wie die stille Mehrheit für Hitler gestimmt. Aber zu Hause wurde überhaupt nicht darüber gesprochen.

Auf das Thema stießen Sie dann in Paris?

Als ich 1960 aus Berlin als Au-pair-Mädchen nach Paris kam, lernte ich meinen Mann, Serge Klarsfeld, kennen, im November sind wir 50 Jahre verheiratet. Serges Vater wurde nach Auschwitz deportiert, von Alois Brunner (der rechten Hand von Adolf Eichmann, dem Organisator der Judenvernichtung; Anm.), der damals in Nizza war. Die Familie hat wie durch ein Wunder überlebt, versteckt in einem Wandschrank.

Ich wollte meiner historischen und moralischen Verpflichtung nachkommen. Ich wurde erzogen durch meinen Mann, einen Historiker. Er gab mir Geschichtsbücher, informierte mich. Der Auslöser war dann, als 1966 Kurt Georg Kiesinger deutscher Bundeskanzler wurde. „Das kannst du nicht zulassen“, sagte mein Mann zu mir. „Du bist Deutsche, dein Land wählt einen Nazi-Propagandisten.“

Es war zunächst nicht breit thematisiert, dass Kiesinger NSDAP-Mitglied war.

Keiner berichtete darüber. Wir fingen an zu recherchieren. Die DDR öffnete Archive für uns. Kiesinger war im Dritten Reich der Vermittler zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Propagandaministerium der Nazis gewesen.

Hatten Sie keine Berührungsängste zur DDR?

In Westdeutschland hat uns keiner Hilfe geleistet.

Die DDR hatte ein Interesse, den deutschen Bundeskanzler anzuschwärzen.

Für die war das natürlich ein gefundenes Fressen. Aber wir haben uns nie manipulieren lassen. Die DDR ließ mich in den 70er-Jahren nicht einreisen, weil ich gegen Antisemitismus hinterm Eisernen Vorhang protestiert hatte. Wir waren immer unabhängig.

Sind Sie auch finanziell von der DDR unterstützt worden?

Die druckten einige Broschüren. Das haben wir auch nie verschwiegen.

Manchmal wird man im Alter milder. War Ihre Kritik an Kiesinger damals überzogen?

Durchaus nicht.

Kiesinger hat sich doch keines direkten Nazi-Verbrechens schuldig gemacht.

Er hatte kein Blut an den Händen. Er war ein Schreibtischtäter. Er war stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. Er hatte Kenntnisse darüber, was in den Lagern geschah. Er musste diesen Posten nicht unbedingt annehmen. Er hat aber seine Intelligenz in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt. Es ging auch um die Symbolik: Wie konnte ein Land wie Deutschland so kurz nach dem Krieg einen Mann wie Kiesinger als Bundeskanzler nehmen. Wäre er Ministerpräsident in Baden-Württemberg geblieben, hätte ich mich auch nicht so engagiert.

Und dann haben Sie dem deutschen Kanzler tatsächlich auf offener Bühne eine geknallt.

Abgeordnete, an die ich die Dokumente geschickt hatte, sagten: „Ach, Frau Klarsfeld, er ist doch demokratisch gewählt worden.“ Die Presse wollte nichts berichten, die musste man manipulieren, zur Berichterstattung zwingen. Es war ein Aufschrei, für die Jugend hatte das eine unglaubliche Bedeutung. Kiesinger konnte nirgends mehr auftreten, ohne die Rufe „Nazi“, „Sieg Heil“, „Kiesinger abtreten“. Danach wurde der Nazi-Kanzler vom Widerstandskanzler Brandt abgelöst.

Wurde die Aktion nicht dadurch größer, dass Sie zu einem Jahr Haft verurteilt wurden?

Kiesinger wollte keinen Strafantrag stellen, seine Umgebung zwang ihn dann aber dazu. Ich habe ein Jahr Gefängnis bekommen, ohne Bewährung. Davor wurde Rudi Dutschke in der Gedächtniskirche blutig geschlagen – 250 Mark Geldstrafe. Mein Rechtsanwalt damals war Horst Mahler.

Hatten Sie damals bemerkt, dass mit Horst Mahler, dem RAF-Verteidiger und späteren Neo-Nazi, etwas nicht stimmt?

Mein Mann und ich hatten Probleme mit ihm, als wir über Israel sprachen. Ich war damals ja schon Französin, und wir wollten versuchen, dass ich nicht in Deutschland verurteilt werde. Der Richter telefonierte wahrscheinlich nach Bonn, dann wurde die Strafe ausgesetzt. Der Richter war so ehrwürdig: Wenn er den Namen Kiesinger aussprach, verbeugte er sich fast noch. Der Richter sagte: „Sie haben Gewalt angewendet.“ Aber Gewalt ist doch auch, wenn man der deutschen Jugend einen Nazi als Kanzler vorsetzt.

Sie haben Alois Brunner erwähnt, dem Sie hinterher waren. Dabei beschatteten Sie hier in Wien seine ehemalige Frau.

Wir machten seine Frau ausfindig, sie lebte in Wien mit einem Mann. Zuerst dachten wir, es sei Brunner. Wir haben ihn überwachen lassen und gemerkt, dass es nicht Brunner ist. Der Mann war irgendein Polizeiinspektor.

Hat sich die Überwachung gelohnt?

Wir haben seine Adresse in Damaskus herausgekriegt. Er verlor ja das Auge und einige Finger, nachdem der Mossad ihm ein Paket geschickt hatte. Dem hatten wir die Adresse gegeben. Ich hatte auch Brunners Telefonnummer in Damaskus. Ich rief ihn an und sagte: „Ich soll Sie warnen.“ Ich sagte am Telefon nicht, wer ich war. „Wenn Sie zur Kur in die Schweiz reisen, sollen Sie verhaftet werden.“ Er sagte nicht, dass er Brunner sei, aber es war seine Stimme, der österreichische Akzent und so.

In Frankreich haben wir ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Er ist in Frankreich 2001 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die französische Justiz ist nach Wien gereist und wollte seine Tochter befragen, sie lebt ja heute noch. Sie hat die Aussage verweigert, das stand ihr als Tochter zu.

Man hat Brunner nie erwischt.

Brunner war zuerst nach Ägypten geflohen, dann nach Damaskus. Waffenhandel, Geheimdienst, Spionage für das Assad-Regime. Es war klar, Brunner wird in Syrien geschützt. Er fühlte sich sicher. Der „Bunten“ sagte Brunner, es hätten mehr Juden vergast werden sollen. Wir haben in Damaskus demonstriert, in Paris, als Assad-Vater dort war; in Berlin, als Assad-Sohn dort war, um Brunners Auslieferung zu fordern. Brunner war am Ende vermutlich in einer der Assad-Residenzen. Er ist sicher schon tot.

Wie haben sich die österreichischen Behörden im Fall Brunner verhalten?

Mit den Österreichern haben wir nie verhandelt. Wir haben in Deutschland versucht, eine Auslieferung zu erwirken. Wir haben sogar kurz vor dem Mauerfall versucht, mit SED-Chef Erich Honecker eine Lösung zu finden, trafen ihn bei einem Staatsdiner in Frankreich. Mein Mann und ich waren damals von Präsident François Mitterrand eingeladen worden. Es gab einen Direktflug von Berlin-Schönefeld nach Damaskus. Wir erklärten der DDR-Führung, dass es möglich sei, Brunner in Damaskus zu kidnappen und nach Berlin zu bringen. Ich habe diese ganzen Dokumente in meiner Stasi-Akte gesehen. Die DDR stellte tatsächlich kurz vor dem Mauerfall einen Auslieferungsantrag, der dann nichts mehr ergeben hat. Wir haben es versucht. Mit Brunner hat es nicht geklappt. Aber wir haben immerhin geschafft, Klaus Barbie (Gestapo-Chef in Frankreich; Anm.)aus Bolivien rauszubringen, Klaus Lischka (als Gestapo-Referatsleiter für Deportation von Juden verantwortlich; Anm.) und Ernst Heinrichsohn (organisierte in Frankreich Auschwitz-Transporte, Anm.) in Deutschland verurteilen zu lassen. Das war nicht leicht, denn in den 60er- und 70er-Jahren waren die Feinde nicht die Nazis, sondern die Kommunisten.

Sie haben Entführungsversuche bei Barbie in Bolivien und bei Lischka unternommen. Wie professionell waren die?

Jedesmal unprofessionell. Wir wollten Lischka in Köln entführen und ihn in Frankreich vor Gericht bringen. Wir hatten drei junge Helfer und ein Auto in Paris angemietet. Das hätte ein viertüriger Mercedes sein sollen, war aber nur zweitürig. Wir hatten Lischkas Büro hinter dem Hauptbahnhof in Köln ausspioniert. Am Morgen, als sich zwei Männer auf ihn werfen und ihn ins Auto zerren sollten, war das nicht möglich. Dann wollten wir es noch einmal versuchen. Er ging zum Mittagessen nach Hause und kam dann wieder in sein Büro. Am Nachmittag versuchten wir es noch einmal. Es klappte nicht, Lischka war ein starker Mann, dann kam dieser Polizist in Zivil auf uns zu. Wir sind zurück nach Paris. Ich habe sofort die Kölner Presse angerufen und gesagt, dass Lischka von jüdischen Gruppen entführt werden sollte. So kam die Sache ins Rollen.

Ihre Aktionen waren jenseits der Legalität.

Aber unsere Aktionen waren gar nichts verglichen mit dem, was Deutschland tat. Die Behörden wussten, wer Lischka war, und machten nichts. Unsere Freunde, die ihre Kinder und Eltern verloren hatten, konnten das nicht verstehen. Das war kein Rachefeldzug, das war eine Suche nach Gerechtigkeit.

Bis zur Selbstjustiz ist es dann aber nur mehr ein kleiner Schritt.

Mein Mann hat Lischka einmal mit einer Pistole bedroht, die nicht geladen war. Wir haben dann zur deutschen Justiz gesagt, wenn nicht bald etwas gegen Lischka unternommen wird, wird es bei uns jemanden geben, der ausflippt. Wir waren so froh, als der Prozess in Köln losging.

Haben Sie mit Simon Wiesenthal kooperiert?

Ja, sicher. Die Arbeit, die Wiesenthal nach dem Krieg geleistet hat, war unwahrscheinlich. Er hat recherchiert, Listen erstellt, Adressen herausgefunden, Namen aufgelistet. Aber die Ohrfeige für Kiesinger, das war nicht sein Fall. Er war ja gut befreundet mit Kiesinger.

Wiesenthal und Kiesinger?

Ja, auf jeden Fall. Wiesenthal hatte sich auch nie gegen Leute wie Kiesinger oder Waldheim gestellt, also gegen Leute, die nicht direkt in den Lagern waren. Wiesenthal wollte jene verurteilen, die in den Lagern arbeiteten und mordeten. Da war er hart, darauf hatte er seine ganze Arbeit konzentriert. Wir arbeiteten ganz anders, hatten aber immer Respekt füreinander.

Es fällt mir schwer, Sie politisch zu verorten. Einerseits traten Sie zuletzt als Präsidentschaftskandidatin für die Linkspartei an ...

Wir hatten gute Kontakte zur Linken, die uns auch für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen haben. Gesine Lötzsch (Vize-Fraktionschefin der Linken; Anm.) kannte ich gut, sie sagte in irgendeinem Gespräch, Beate Klarsfeld wäre eine gute Kandidatin. So kam dann alles ins Rollen. Ein Journalist hat angerufen, mein Mann war dran: „Was sagen Sie. Würde Ihre Frau das machen?“ „Aber sofort“, sagte mein Mann. Gregor Gysi und Gesine hatten kein leichtes Spiel, Oskar Lafontaine stellte sich dagegen, sie haben es aber geschafft. Ich war proamerikanisch, pro Israel und unterstützte zu der Zeit Nicolas Sarkozy (Frankreichs konservativen Ex-Präsidenten; Anm.).

Wie geht das für Sie zusammen: Sarkozy und die Linkspartei?

Wir haben vieles gemeinsam: die Anerkennung der Opfer des Faschismus, soziale Gerechtigkeit. In die Politik bin ich nicht weiter hineingegangen. 1968 bin ich verurteilt worden, weil ich Kiesinger geohrfeigt habe, und jetzt war ich selbst Kandidatin. Wie Joachim Gauck, der sich für Menschenrechte eingesetzt, der aber nie sein Leben aufs Spiel gesetzt und Nazis aufgespürt hatte, so wie ich.

Was verbindet Sie mit Sarkozy?

Ich bin von Mitterrand, von Chirac, von Sarkozy ausgezeichnet worden. Wir haben gute Kontakte zu allen. Chirac war der Erste, der anerkannte, dass die Deportation der Juden in Frankreich nicht nur Vichy-Sache war, sondern auch Frankreich betraf – anders als Mitterrand. Einige meiner Positionen stimmen mit Sarkozy überein, wir sind aber bei keiner Partei und wählen je nach der Situation. Von Hollande sollen wir im nächsten Jahr ausgezeichnet werden.

Sie sagten, Sie hätten Ihr Leben aufs Spiel gesetzt?

Wir haben eine Bombe ins Haus bekommen, unser Auto wurde in die Luft gesprengt.

Ist das jemals geklärt worden?

Nein. Das Paket, die Bombe, kam damals von Samuel Segal (die Initialen ergeben SS; Anm.). Ich war mit meinem Sohn in Nizza, meine Tochter war bei der Schwiegermutter. Die Hauswartsfrau brachte es hoch. Die Katze kratzte am Paket herum. Serge meinte, er hätte ein ungutes Gefühl. Er rief die Gendarmerie an. Das Packpapier machte er auf. Da war eine rote Zuckerdose drinnen, schwarze Krümel rundherum. Als er ein Streichholz drauflegte, kam eine kleine Stichflamme. Er ging zum Polizeikommissariat und sagte, es könnte eine Bombe sein. Die Straße wurde dann abgesperrt. Es waren 500 Gramm Dynamit und Nägelchen. Kurz danach ist ein Gefängnisdirektor mit einer Bombe der gleichen Art getötet worden. Und dann ist unser Auto in die Luft gesprengt worden. Der Timer war für morgens gestellt, wenn mein Mann meine Tochter in die Schule hätte bringen sollen. Die Bombe ging aber in der Nacht los.

Steckbrief

13.Februar 1939
Beate Klarsfeld (Künzel) wird in Berlin geboren. Mit 21 Jahren geht sie als Au-pair-Mädchen nach Paris und lernt den Anwalt und Historiker Serge Klarsfeld kennen. 1963 heiraten sie.

1968
Am 7. November ohrfeigt Klarsfeld während des CDU-Parteitags in Berlin den deutschen Kanzler Kurt Georg Kiesinger wegen dessen Nazi-Vergangenheit.

1971
Klarsfeld spürt in Köln Kurt Lischka auf, der für die Deportation von 76.000 Juden aus Frankreich verantwortlich war. Sie macht in der Folge auch Klaus Barbie und andere Nazi-Schergen ausfindig.

18.März 2012
Klarsfeld tritt für die Linke bei der deutschen Präsidentenwahl an und unterliegt Joachim Gauck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2013)

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