Psychische Gesundheit

Immer mehr Kinder und Jugendliche denken an Suizid

Paul Plener, Vorstand an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med-Uni Wien (AKH) und Präsident der ÖGKJP.
Paul Plener, Vorstand an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med-Uni Wien (AKH) und Präsident der ÖGKJP.Clemens Fabry
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Akute Belastungen und anhaltende psychische Krisen nahmen als zugrundeliegende Diagnosen zu. Depressionen hingegen blieben auf hohem Niveau gleich.

Rund 1100 Menschen sterben in Österreich jedes Jahr durch Suizid, etwa 25 bis 30 von ihnen sind jünger als 18. Nach Verkehrsunfällen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zahlen aus österreichischen Kliniken belegen nun, dass sich Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen seit 2018 verdreifacht hat, wie die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) am Freitag mitteilte. Anlass ist der Welt-Suizid-Präventionstag am 10. September. Suizidalität bedeutet, dass jemand Suizidgedanken hat, Suizidversuche unternimmt oder einen Suizid begeht. Die Zahl im letzteren Fall ist nicht signifikant gestiegen.

„In den vergangenen Jahren wurde in Österreich in Kliniken und auch im niedergelassenen Bereich eine deutliche Zunahme von Kindern und Jugendlichen beobachtet, die mit Suizidgedanken oder nach einem Suizidversuch vorstellig wurden“, sagt Paul Plener, Vorstand an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med-Uni Wien (AKH) und Präsident der ÖGKJP. Während die Zahl der Akutvorstellungen (Konsultationen ohne Termin) an der Kinder- und Jugendpsychiatrie im AKH 2022 mit 1260 vergleichbar mit der Zahl der Vorstellungen 2019 (1277) war, stieg die Zahl der Jugendlichen, die nach einem Suizidversuch behandelt wurden, von 67 (2019) auf 200 (2022). Suizidgedanken hatte mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die akut vorstellig wurden.

Psychische Krisensituationen

Am LKH Süd II in Graz wurden 2018 noch 103 Kinder und Jugendliche wegen einer suizidalen Krise aufgenommen, 2022 waren es schon 310, sagt Isabel Böge, Primaria der Abteilung für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am LKH Süd und Vizepräsidentin der ÖGKJP. Dabei nahmen laut Böge akute Belastungen und psychische Krisen als zugrundeliegende Diagnosen deutlich zu, während Depressionen auf hohem Niveau gleich blieben. Eine akute Belastung ist eine vorübergehende Störung, die sich bei einer psychisch nicht gestörten Person als Reaktion auf eine außergewöhnliche Belastung entwickelt. Bei Jugendlichen kann das etwa eine Trennung sein. Im Vordergrund steht also der vorübergehende Charakter.

Deutlich zu beobachten ist auch, dass Suizidalität erst ab einem gewissen Alter eine Rolle zu spielen scheint. Kinder würden erst ab neun bis zehn Jahren ein Todeskonzept entwickeln, sodass Suizidalität in der Regel selten vor dem elften Lebensjahr vorkomme. Während Suizidalität 2019 eher bei 13- bis 15-Jährigen auftrat – und zwar im Zuge von impulsiven Reaktionen –, tritt sie inzwischen mehr auf der Basis von komplexerer Psychopathologie bei Belastungsstörungen, depressiven Verstimmungen und Persönlichkeitsstörungen auf, was sich am LKH Süd auch in einer Altersverschiebung der von Suizidalität betroffenen Jugendlichen auf 14- bis 17-Jährige abbilde.

Immer jüngere Kinder

Auch in der ambulanten Krisenintervention wird seit 2019 ein Anstieg der Fälle von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen um 30 Prozent (2021 sogar um 53 Prozent) verzeichnet. Dort zeigte sich zuletzt, dass es parallel zur eben genannten Entwicklung auch einen Trend zu Suizidalität bei ganz jungen Kindern gibt. „Besonders erschreckend war für mich die Erfahrung, dass immer jüngere Kinder, auch schon im Volksschul- und eines sogar im Kindergartenalter, über Suizidgedanken und teilweise konkrete Suizidpläne gesprochen haben. Sie waren einfach in einer verzweifelten Lage und wollten so nicht weiterleben,“ sagt Ulrike Altendorfer-Kling, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Generalsekretärin der ÖGKJP.

Bei der Kids-Line (Telefonseelsorge für Kinder und Jugendliche) habe es mehr als eine Verdreifachung der Chatanfragen und Telefonate seit der Pandemie gegeben (Mai 2019: 959 Chats, Mai 2023: mehr als 4000 Chats, Mai 2019: 9000 Telefonate, Mai 2023: 17.233 Telefonate).

Mehr Präventionsangebote

Die gestiegenen Zahlen an Klinikvorstellungen nach Suizidversuchen machten deutlich, dass die Bemühungen im Zuge der Suizidprävention in Österreich erhöht werden müssen. „Präventionsangebote sind dringend erforderlich, um dem aktuell vorherrschenden Trend von zunehmender Suizidalität unter psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken und dort präventiv tätig zu sein, wo es nötig ist, im Alltag, in der Schule, in der Gruppe der Gleichaltrigen“, sagt Böge.

Die Expertinnen und Experten der ÖGKJP fordern daher, dass bereits vorhandene Präventionsprogramme im Zuge der schulischen Suizidprävention im Zusammenwirken zwischen Gesundheits- und Bildungsressort flächendeckend implementiert werden. Zudem sollen Fördergelder in die Adaptierung und Eingliederung von internationalen Best-Practice-Modellen zur Nachsorge nach Suizidversuchen an Kliniken zur Verfügung gestellt werden. Wie von der ÖGKJP bereits wiederholt gefordert, müsse es auch einen kassenfinanzierten Zugang zu fachärztlicher, psychotherapeutischer und psychologischer Hilfe für alle von psychischen Erkrankungen betroffenen Minderjährigen geben.

Nicht zuletzt müssten bauliche Maßnahmen zur Sicherung von bekannten Suizid-Hotspots getroffen und die Abgabe von Medikamenten reguliert werden, damit junge Menschen nicht auf einmal größere Mengen an Arzneimitteln bekommen können.

Begrifflichkeiten

Suizidales Verhalten umfasst Suizidversuche und vollendete Suizide.
Suizidgedanken bedeutet, über Suizid nachzudenken und diesen zu planen.
Suizidversuche sind Handlungen, die tödlich sein können, aber nicht tödlich waren. Oder Handlungen, von denen angenommen wurde, dass sie tödlich sind, die aber in Wirklichkeit nicht sehr gefährlich waren.
Suizidalität umfasst im Prinzip all diese Begriffe.

Hilfsangebote

Es gibt eine Reihe von Hilfseinrichtungen und Anlaufstellen für Menschen in akuten Krisensituationen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.

Telefonische Hilfe gibt es auch bei:

Kriseninterventionszentrum (Mo-Fr 10-17 Uhr): 01/406 95 95, kriseninterventionszentrum.at

Rat und Hilfe bei Suizidgefahr 0810/97 71 55

Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr): 01/313 30

Sozialpsychiatrischer Notdienst 01/310 87 79

Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos): 142

Rat auf Draht (0-24 Uhr, für Kinder & Jugendliche): 147

Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at

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