Ansicht von Nürnberg aus dem 15. Jahrhundert, aus Schedels Weltchronik.
Geschichte

Die neue Zeit: Dürer und die Welt um 1500

Ein Rundgang durch die Zeit um 1500, von der Geburt bis zum Tod, vom Bettler bis zum Kaiser, mit dem Blick eines der größten Genies dieser Epoche: Albrecht Dürer. Ein Historiker verschafft uns Einblicke in eine Welt des Umbruchs. 

Die Katze döst vor sich hin, unbehelligt spielt direkt vor ihrem Maul ein Mäuslein. Die beiden sind ein humorvolles Nebenmotiv in Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich von 1504 über Adam und Eva im Moment vor dem Sündenfall. Es ist eine spannungsgeladene Szene: Gleich wird sich alles ändern, Adam wird in den Apfel beißen, die Idylle, das Paradies, verloren gehen. Das friedvolle Dasein weicht dem Überlebenskampf. Für Mensch und Tier. Eine Wende, nie wieder wird es sein wie vorher. Das gilt auch für die Zeit, in der das Kunstwerk entstand.

Sich von den mittelalterlichen Denkmustern völlig abzulösen, war nicht leicht für die Welt um 1500. Doch es bahnte sich so viel an, neue Antworten auf alte Fragen wurden gesucht. Dürers Bild steht für die Aneignung der Antike in der Renaissance, unübersehbar ist die Freude am schönen Körper, der der Eva erinnert an eine Venus aus den Florentiner Uffizien, der Adams an den Apoll von Belvedere aus dem Vatikan. Ganz der Zeit Dürers entstammt hingegen die Technik des Kupferstichs, die durch das neue Medium des Drucks in großen Mengen Verbreitung fand.      

Ein Bild wie dieses wurde schon vielfach betrachtet und gedeutet, so wie das gesamte Leben und Werk Albrecht Dürers. Doch warum es nicht einmal umgekehrt versuchen? Nicht die Werke aus der Zeit zu deuten, sondern sich mithilfe der Kunst Einblicke in die komplexe reale Welt, in der sie entstand, zu verschaffen? Romedio Schmitz-Esser unternimmt in seinem soeben erschienenen Buch „Um 1500. Europa zur Zeit Albrecht Dürers“ einen kulturhistorischen Rundgang mit Albrecht Dürer als Begleiter, „als einem Menschen, der sich darüber Gedanken machte, wie man richtig leben sollte“. Der deutsche Historiker setzt dabei gezielt Schlaglichter und wählt dafür 50 Kunstwerke, die 50 Einblicke in die Welt des Ausnahmekünstlers, das Familienleben, den Alltag, die Stadt und die Umbruchszeit des späten Mittelalters, gewähren. Die genau erforschte Person Dürers, der ein großes persönliches Netzwerk hatte, viel reiste und Tagebuch schrieb, eignet sich besonders gut dafür, ebenso wie die freie Reichsstadt Nürnberg, in der er lebte.

Wie fühlte sich diese Welt an?“

„Wie fühlte sich diese Welt an?“, fragt der Historiker. Er diagnostiziert alte Traditionen und unerhörte Umbrüche, „ein hartes, manchmal auch fließendes Nebeneinander“. Sein Buch macht große Lust, darin einzutauchen, die zahlreichen Aspekte kennenzulernen, die guten und schlechten Seiten. Die Nachwelt jedenfalls machte die deutsche Renaissance zu einer eigenen Epoche, zu einem Gipfelpunkt der geschichtlichen Entwicklung, und wertete die Zeit vorher ab. Bekamen die Zeitgenossen die vielen schleichenden Entwicklungen immer mit? Das Ereignis, das das alte Glaubensgebäude erschüttern sollte, die Reformation, war um 1500 noch nicht abzusehen, sehr wohl merkbar war die europäische Übersee-Expansion im Zuge der Entdeckung Amerikas und die große Schere zwischen Arm und Reich. Dürer kannte die politischen Verhältnisse der Zeit, er merkte, wie sie auch auf sein alltägliches Leben einwirkten. Auch wenn er privilegiert und berühmt war, erfuhr er die harte Realität am eigenen Leib. Schmitz-Esser zeigt das bereits im ersten Kapitel, es ist „Geburt“ übertitelt und mit einer betenden Maria, einem besorgt blickenden Joseph und wachenden Engeln im Stall von Bethlehem illustriert.

„Bedenkt man die vielen, sehr realen Gefahren, die sich mit der Geburt im 15. und 16. Jahrhundert verbanden, so musste den Betrachtern der Zeit die Geburt des Christuskindes unter den ärmlichen und notdürftigen Verhältnissen im Stall von Bethlehem und der doch so selig und glücklich gezeichneten Szene umso berührender erscheinen“, schreibt der Autor. Um 1500 starb ein Fünftel der Kinder schon bei oder bald nach der Geburt. Von Dürers 18 Kindern wurden nur drei erwachsen. Zu seiner Zeit begann gerade die Qualitätsverbesserung im Hebammenwesen. Dass sich die Einstellung zur Geburt und damit auch die Sicht auf das diesseitige Leben gerade änderte, zeigt Dürers Biografie: Es ist bemerkenswert für einen Handwerkersohn, dass der Geburtstag, nämlich der 21. Mai (1471), bekannt ist. Im Mittelalter mit seinem auf das Jenseits gerichteten Blick wurde meist nur der Sterbetag festgehalten, man wusste nicht, wie alt man war.

Die ungewöhnliche Begabung des heranwachsenden Albrecht Dürer, der als Goldschmied und Maler ausgebildet wurde und dem damit eine höhere Bildung verschlossen war, zeigt ein Selbstporträt als „kint“, das er mit 13 verfertigte. Spätestens jetzt erkannte der Vater, wie außergewöhnlich sein Sohn war. Nicht Gefühle im heutigen Sinn, sondern Respekt bestimmte damals das Verhältnis zwischen den Generationen, das betraf auch die beruflichen Perspektiven für einen ältesten Sohn, der ein Handwerk erlernen musste. Im Übrigen gab es damals keinen Anlass, zwischen Künstler und Handwerker begrifflich zu unterscheiden. Seine Mutter Barbara porträtierte er zum ersten Mal mit neunzehn Jahren, sie war eine wichtige Person in seinem Leben. In dem Kapitel „Familie“ wird das patriarchale Verständnis der Familie differenziert analysiert, bei genauerem Hinsehen zeigt sich eine interessante „Gendertrennung“: Söhne verorten sich in der Vaterlinie, Töchter bezogen sich auf die Mutter.

Dürer war stolz auf seine Herkunft: Von 1523 stammt ein Holzschnitt, der das Familienwappen zeigte. Das war keine Anmaßung, das war auch Bürgern erlaubt und demonstrierte die Stellung nach außen. Man lebte in einer sozial durchlässigen Gesellschaft, und der Blick der Dürers war sozial nach oben gerichtet. In einer spätmittelalterlichen Reichsstadt war die soziale Binnendifferenzierung nicht mehr so starr wie früher. Kaufleute wie die Fugger konnten sogar zu Reichsfürsten werden. Ausdruck des Selbstbewusstseins des Künstlers Dürer war auch die häufige Verwendung des Monogramms. Das sicherte sein Werk nicht nur gegen geistigen Diebstahl, sondern schuf auch eine Marke, die seine breit gestreute Kundschaft leicht erkennen konnte.

Bildung konnte den Aufstieg ermöglichen. Albrecht glich die Defizite der eigenen, kurzen Schulzeit aus und profitierte von den humanistischen Zirkeln Nürnbergs und vom sich rasch entwickelnden Buchdruck. Dass in seiner Heimatstadt die Medienproduktion ab 1470 geradezu explodierte, führte abgesehen von der Nachrichtenverbreitung und Alphabetisierung auch zu einer Änderung der Kunstproduktion, und das hatte direkte Auswirkungen auf Dürer. Es brachte neue Einnahmequellen und führte zu einer neuen Ästhetik.

Ehefrau und Managerin

Aufstieg war auch durch geschickte Heiratspolitik möglich. 1494 zeichnete Dürer seine Ehefrau, „mein Agnes“, in einer intimen, schüchternen Pose. Männer heirateten gern jüngere Frauen und nach oben, nach unten nur, wenn die Mitgift überzeugend war. Die meist arrangierte Ehe war eine arbeitsteilige Zweckgemeinschaft, die das Überleben und die Absicherung von sozialer Stellung und Wohlstand garantieren sollte. Agnes stammte aus der Nürnberger Oberschicht, und es gibt Hinweise auf persönliche Zuneigung und Vertrauen zwischen dem Paar. Sie war eine Frau mit Handlungsspielraum und verstand es, gemeinsam mit Mutter Barbara den Kunstvertrieb für ihren Gatten zu managen. Sie musste also rechnen und schreiben können. Es fehlte nicht an Neid: Ihre Gier treibe den Ehemann noch ins Grab, so ein Zeitgenosse. Tüchtigkeit rief Misogynie hervor – auch das typisch für die Zeit.

Dürers „Betende Hände“ gehören zu den beliebtesten Motiven auf Gräbern, sie stehen für Andacht und stilles Gedenken, ohne eindeutig konfessionell konnotiert zu sein. Das traf die Stimmung der Zeit um 1500, in der neben die tradierte, nach außen demonstrierte Frömmigkeit die verinnerlichte Beziehung zu Gott trat. Gleichzeitig war um 1500 die Sorge vor einem Weltende allgegenwärtig. Das war noch sehr mittelalterlich und wurde durch die epochalen Veränderungen der Zeit befeuert. 1498 erschien Dürers Folge von 16 Holzschnitten zur Apokalypse. Die sich darauf beziehenden Bibelstellen wurden nun wieder eifriger gelesen.

So gelingt es dem Historiker durchgehend, eine Brücke zwischen der Grundstimmung der Zeit und den Werken Dürers zu schlagen. Ein ohne Anspruch hingekritzeltes Strichmännchen aus einem Brief an den langjährigen Freund Willibald Pirckheimer, geschrieben am 8. November 1506 in Venedig, gibt Anlass, über das Humorverständnis der Zeit zu sinnieren. Eine Zeichnung, die eine Gruppe von Segelschiffen im Hafen von Antwerpen zeigt, führt zum Thema Mobilität und Globalisierung, das berühmte Porträt Kaiser Maximilians I. zu Überlegungen, wie Kunst und Herrschaft in dieser Zeit miteinander harmonisierten und sich wechselseitig förderten und bedingten. Wenn Dürer den Kirchenvater Hieronymus in seinem Studierzimmer darstellte, lieferte er uns ein detailliertes Interieur einer bürgerlichen städtischen Stube der Zeit inklusive Butzenscheiben, nur eben mit Kardinalshut an der Wand und einem Löwen im Vordergrund. Ein Thema freilich fasste Dürer in seinem Werk, so der Autor, nur mit Fingerspitzen an: das der weit verbreiteten Armut. „Offenbar war es seinem Käuferkreis wenig wichtig, mit dem Elend der Welt konfrontiert zu werden.“

Erschienen

Romedio Schmitz-Esser:

Um 1500. Europa zur Zeit Albrecht Dürers.

Verlag wbg Theiss, 504 Seiten, 45,30 Euro

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