"Macondo": Leiser Kinozauber aus dem Asylantenghetto

MACONDO
MACONDOFreibeuter Film
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Der österreichische Beitrag für den Wettbewerb der Berlinale kann sich sehen lassen: Sudabeh Mortezai zeigt in „Macondo“ das Leben in einer Flüchtlingssiedlung am Rande Wiens – ohne jedes Klischee und mit großer Einfühlungskraft.

Die Magie beginnt mitten im Realismus, am Rande von Wien und auf der Leinwand. Draußen in Simmering, zwischen Kläranlage, Ostautobahn und Industriehafen, liegt Macondo. Nur wenige Wiener kennen die Siedlung für anerkannte Flüchtlinge, in der heute 3000 Menschen aus 22 Ländern leben. Den Spitznamen, der dort auf Graffiti prangt, verdankt dieses Quasighetto um eine k.u.k.-Kaserne den Chilenen, die in den Siebzigerjahren vor der Diktatur Pinochets flohen. Eine literarische Reminiszenz: Macondo heißt das fiktive Dorf, dessen Geschichte Márquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ erzählt. Leben und Fiktion führt auch Sudabeh Mortezai zusammen. Die österreichische Regisseurin mit iranischen Wurzeln, eine erfolgreiche Dokumentarfilmerin, hat mit „Macondo“ ihren ersten Spielfilm gedreht, fast zur Gänze mit Laienschauspielern, den Menschen vor Ort.

Leicht war es, die Kinder für das Projekt zu begeistern. Groß war das Misstrauen der Erwachsenen, kaum einer wollte anfangs mitmachen. Mortezai war kurz davor, aufzugeben. Nun ist der Film im Kasten, und weit mehr: Er wurde als einziger österreichischer Wettbewerbsbeitrag zur Berlinale geladen. Am Freitag hatte er Premiere, die letzte vor der Preisverleihung. Schon bei der Pressevorführung hörte man etwas, was es von den abgebrühten Filmkritikern selten zu hören gibt: dankbaren, langen Applaus.

Elfjähriger Laie auf dem roten Teppich

In Macondo leben die Reste zerrissener Familien, ihre Hierarchien stehen oft Kopf. Viele Erwachsene kämpfen stumm gegen Dämonen der Vergangenheit, das Trauma von Bürgerkrieg und Vertreibung. Sie bleiben Fremde. Die Kinder aber lernen in der Schule rasch Deutsch. Sie übersetzen, sind Sprecher ihrer Familien vor der österreichischen Obrigkeit, die Brücke nach draußen. Das bürdet ihnen Verantwortung auf, oft mehr, als ihnen guttut. Denn auch sie sind überfordert, halb losgerissen von ihrer alten Welt, noch nicht angekommen in der neuen.

So steht es auch um Ramasan, einen elfjährigen Tschetschenen, den Helden der Filmhandlung. Ihn spielt Ramasan Minkailov, elf Jahre, Tschetschene. Der kleine Star aus dem Nichts trägt, wie wundersam, den Film, in dem er die Last trägt, viel zu jung Familienoberhaupt zu spielen. Der Plot: Den Vater, den Ramasan als Helden verehrt, haben die Russen im Bürgerkrieg getötet. Seine Mutter (Kheda Gazieva) ist nach Österreich geflüchtet, mit ihm und zwei Schwestern, um die er sich tagsüber kümmern muss. Anders als bei den meisten „Macondianern“ ist ihr Asylstatus gefährdet. Der Neuankömmling Isa (Aslan Elbiev) gibt sich als Freund des Verstorbenen aus und sucht den Kontakt zur Familie. Das weckt die Eifersucht des patriarchal geprägten Mini-Machos. Doch sein kindliches Weltbild gerät ins Wanken: Er erfährt, dass seine Mutter zur Ehe gezwungen wurde. Und Isa degradiert den Kampf, den der Vater und er führten, von der Heldentat zur Dummheit. Das Kind verliert den Halt, seine Lausbubenstreiche drohen abzudriften in Kleinkriminalität. Doch bevor Mortezais leise Geschichte effektvoll eskalieren könnte, fängt die feinfühlige Regisseurin sie wieder ein und führt sie zum versöhnlichen Schluss.

So schlicht die Handlung, so spektakulär die Machart: „Macondo“ ist ein Spielfilm mit konsequent durchgezogener Story, der dennoch fast nie auf die spontane Lebendigkeit der dokumentarischen Form verzichtet. Hier hat niemand eine Zeile Drehbuch auswendig gelernt. Gut die Hälfte des Films wird Tschetschenisch gesprochen. Vor allem die fröhliche Anarchie der Kinder auf dem Spielplatz, dem Fußballfeld und im Baggerpark ist ganz dem wahren Leben abgeschaut. Der gutturale Wiener Jugendslang stimmt in jeder Nuance. Die Polizistin, der Sozialarbeiter, der alte Ersatz-Clanchef als Streitschlichter: Alle spielen sich selbst. Etwas anderes könnten sie gar nicht. Mit dem Kunstgriff der sozialen Schwarmintelligenz schafft Mortezai ganz unangestrengt ein kleines Wunder: einen österreichischen Film über Flüchtlinge in Österreich, der jeder Versuchung widersteht, ein vordergründiges politisches Zeichen zu setzen oder eine wohlfeile didaktische Botschaft loszuwerden. Elegant navigiert er zwischen den Eisbergen der Klischees und den Untiefen gut gemeinter Propaganda. Die Kinder aus aller Welt sind keine fremdartigen Störenfriede und keine Multikulti-Engelchen. An einem Tag mobben die Tschetschenen den dunkelhäutigen Somalier, am nächsten Tag ist er ihr bester Freund. Wie Kinder eben sind, grausam und großzügig. In Macondo wie in Hinterbrühl.

Hier wird einfach eine ungemein authentisch wirkende Geschichte erzählt. Gerade das aber macht den Film eminent politisch – weil es im diskursiven Minenfeld um Ausländer, Asyl und Integration plötzlich um ganz konkrete, wahrhaftig gezeichnete Menschen geht. Mit allem Guten, mit allem Bösen, das in jedem von uns steckt. Dass ein solcher Film ausgerechnet aus Österreich kommt und von Berlin aus ein weltweites Publikum erreicht, ist ein Glücksfall.

AN WEN GEHT DER GOLDENE BÄR?

Die Berlinale eilt ihrem Höhepunkt und Abschluss entgegen: Am Samstagabend werden Goldener und Silberner Bär verliehen. Der glanzvoll besetzte Auftaktfilm, Wes Anderson „Grand Budapest Hotel“, bleibt bis zum Schluss sehr gut im Rennen. Favorit ist aber seit Donnerstag Richard Linklaters neues Meisterwerk „Boyhood“, eine über zwölf Jahre gedrehte Geschichte vom Erwachsenwerden. Auch Dominik Grafs „Drei Schwestern“ (für Deutschland) und Österreichs Beitrag „Macondo“ kamen beim Fachpublikum sehr gut an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2014)

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