Der Sohn, der vom Himmel fiel

Im Zentrum steht ein Kind: Simon ist dünn, spricht eine Privat-sprache und sieht chinesisch aus. Sein Vater soll Sixten Braun sein? Unwahrscheinlich! Wie so vieles in Heinrich Steinfests Roman „Der Allesforscher“. Und trotzdem: ein zauberhaftes Buch, voll skurriler Einfälle und bewegender Episoden.

Wer literarischen Realismus mit dem Zwang zum Verbürgten oder immerhin einem Hang zum Wahrscheinlichen verwechselt, braucht es mit Heinrich Steinfests Roman „Der Allesforscher“ erst gar nicht zu probieren. Es entgeht ihm dann allerdings ein zauberhafter Roman, fantasievoll ausgedacht und mit kompositorischer Raffinesse entwickelt, voll skurriler Einfälle, bewegender Episoden, komischer Formulierungen; ein Buch zudem, das spannend ist und, ja, zu Herzen geht, denn im Zentrum des Romans steht ein Kind, fremd und verletzlich, doch großmütig und wie geschaffen dafür, eine der von Steinfest im Roman reichlich verstreuten Lebensweisheiten zu beglaubigen: „Simon hatte bereits begriffen, dass die eigentliche Aufgabe der Kinder darin bestand, die Erwachsenen zu trösten. Auch wenn es umgekehrt sein sollte. Aber selbst wenn man eine schlechte Schulnote bekam, musste man seinen Eltern begreiflich machen, dass das nicht das Ende der Welt sei.“

Dieser Simon ist eine originelle Gestalt, ein Kind, das sich eine eigene Sprache erschaffen hat, die von niemandem verstanden wird, und das doch über die Gabe verfügt, die Menschen zusammenzubringen. Simon stammt aus Taiwan, wo er seine ersten Jahre als Sohn der deutschen Ärztin Lana Senft verbrachte. Aber diese stirbt, und nach einiger Zeit meldet sich eine Mitarbeiterin der taiwanesischen Vertretung bei dem33-jährigen Sixten Braun, der in Stuttgart als Bademeister lebt. Dieser Sixten ist ebenfalls ein origineller Charakter, dessen Lebensweg zudem völlig unwahrscheinlich anmutet; es zeugt von der großen Könnerschaft Steinfests, dass wir uns dennoch von der ersten Seite an für diesen Mann interessieren und um ihn und sein Glück bangen.

Vor Jahren war Sixten für einen internationalen Konzern in Taiwan tätig, bis ihm ein seltenes Unglück widerfuhr. Er wurde durch die Eingeweide eines toten Pottwals, der gerade mit einem Lastkraftwagen in ein Forschungszentrum transportiert wurde, verletzt. Die Geschichte klingt eher arg erkünstelt als gut erfunden, aber ein solches Unglück hat sich vor ein paar Jahren tatsächlich ereignet. Im Körper eines verendeten Wals hatten sich Gärgase gebildet und dessen Körper buchstäblich explodieren lassen, wobei die Umstehenden von den herumfliegenden Innereien des Wals getroffen und von seinem Blut besudelt wurden.

Immerhin, ohne diese Verletzung würde Sixten ihr nie begegnet sein, der Ärztin Lana, die zur großen Liebe seines Lebens wird, auch wenn er mit ihr nur ein paar Nächte zusammen verbringt. Steinfest hat das Talent, Szenerien mit einem merkwürdigen Sprachwitz auszugestalten. Das Erwachen Sixtens aus der Ohnmacht beschreibt er so: „Als ich zu mir kam, wurde die absolute Schwärze von einer absoluten Weiße ersetzt, als hätten ein paar katholische Anstreicher – Polen natürlich – den Tod aufgehellt.“ Sein ganzes Leben aufgehellt hat jedenfalls diese Lana, die sich ihm schließlich wieder entzieht, hat sie doch einen asiatischen Liebhaber, von dem erst an viel späterer Stelle des Romans wieder zu hören sein wird.

Wie es sich für eine richtig unglaubwürdige, aber wahrhaftige Geschichte gehört, hat Sixten auch noch einen Flugzeugabsturz zu überleben und eine kurze, vorbildlich desaströse Ehe in Deutschland hinter sich zu bringen, bis er weiß, dass er sein Leben nicht als Manager vergeuden will. Also wird er, einem Kindertraum folgend, stattdessen Bademeister in einem für seine Schönheit berühmten Freibad in Stuttgart. Er führt ein wenig aufregendes Leben, aber von Abenteuer hat, wer den explodierenden Wal, das abstürzende Flugzeug und den geschäftstüchtigen Schwiegervater überlebt, fürs Erste ohnehin genug.

Bis sich Kerstin von der taiwanesischen Vertretung meldet und meint, in Taiwan sei eine deutsche Ärztin gestorben und die Freundin, in deren Obhut sie ihr Kind gegeben hatte, wäre mittlerweile wahnsinnig geworden; und daher solle sich nun endlich sein deutscher Vater um den Buben kümmern. Natürlich sträubt Sixten sich eine Weile, aber dann denkt er an seine große Liebe, die rätselhafte Lana, und an die zupackende Kerstin, der er imponieren möchte, und an das Glück, das sich ihm bietet, indem er gänzlich unverhofft zum Vater werden könnte: „Und dann kam der Junge. Ein Flugzeug brachte ihn, wie andere Kinder der Storch.“

Der Bub ist da, er ist unglaublich dünn, spricht eine Privatsprache, in der kein Dolmetsch einen chinesischen Dialekt zu erkennen vermag, und ist sichtbar vor allem eines: nicht der leibliche Sohn von Sixten. Kann man ihm die deutsche Mutter gerade noch anmerken, ist er ansonsten – ein ganzer Chinese. Aber er ist großmütig, hat gleich ein Herz für den fremden Deutschen und weiß ihn, der erst jetzt merkt, was ihm alles im Leben gefehlt hat, so zu rühren, dass er ihn mitnimmt und als seinen Sohn anerkennt. Was Kerstin so starken Eindruck macht, dass es am Ende auch mit ihr kommt, wie es kommen soll.

Wie aus Sixten, der sich in seinem Leben selbst schon fast verloren hat, und Simon, einem Himmelskind, das unter die Menschengefallen ist, Vater und Sohn werden, das hat Heinrich Steinfest feinsinnig wie warmherzig erzählt. Unter anderem ist „Der Allesforscher“ auch ein Hohelied auf eine besondere, eine prekäre, in der Realität so oft misslingende Freundschaft, auf die Freundschaft von Vater und Sohn.

Der ganz aus der romantischen Traditionheraus erzählte Roman dreht noch zahllose gewagte Pirouetten und bietet noch etliche merkwürdige Gestalten auf. Für Sixten gilt es, sich endlich einem traumatischen Erlebnis des Verlusts zu stellen, dem frühen Tod seiner Schwester Astri, die als Bergsteigerin in Tirol abgestürzt ist. Also fahren er, Kerstin und Simon, der inzwischen als größtes Talent der schwäbischen Klettervereine gefeiert und gefördert wird, nach Tirol.

In diesem dritten Teil erweitert Steinfest seinen Roman um mythologische Elemente, da führen die Toten in den Träumen der Überlebenden noch ein immaterielles,gleichwohl reales Leben, da wird ausgerechnet im Tiroler Tux das Matriarchat verwirklicht, und zwar in einer Skihütte, in der Auden Chen, der leibliche Vater von Simon, als Koch arbeitet. Wie es den Protagonisten des Romans gelingt, aus einer haarsträubenden Abfolge von Katastrophen in glückliche Beziehungen zueinander zu finden, so gelingt es Steinfest, die kühnen Kapriolen der Handlung nicht als Zauberkunststücke zu inszenieren, sondern so zu tun, als bestünde das alltägliche Leben der Menschen aus nichts als solchen Kehren und Wendungen.

Wer, wie ich, ein Ressentiment gegen Kriminalromane, nein, gegen die lachhafte Tatsache hat, dass heute fast nur mehr Krimis veröffentlicht werden, der hat vielleicht um Heinrich Steinfest, der mit einer Serie vonKrimis berühmt wurde, bisher einen Bogen gemacht. Das ist ein schwerer Fehler. ■

Heinrich Steinfest

Der Allesforscher

Roman. 400 S., geb., €20,60 (Piper
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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