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„Sex Education“: So aufgeklärt ist die letzte Staffel

Zwei Sex-Beratungsstellen? Schüler-Therapeut Otis (Asa Butterfield) bekommt in Staffel vier Konkurrenz von „O“ (Thaddea Graham).
Zwei Sex-Beratungsstellen? Schüler-Therapeut Otis (Asa Butterfield) bekommt in Staffel vier Konkurrenz von „O“ (Thaddea Graham).Netflix
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Die finale Staffel der gefeierten Netflix-Serie „Sex-Education“ spielt in einer regenbogenbunten, betont queeren Vorzeige-Schule. Übertrieben? Ja. Aber Diversität dient hier einer großen Erzählung.

Als Anfang 2019 die erste Staffel von „Sex Education“ auf Netflix herauskam, ging eine Welle einhelliger Begeisterung durch Publikum und Kritikerkreise. Nicht nur, weil Jugendliche und Erwachsene darin den Aufklärungsunterricht fanden, den sie in ihren eigenen Schulen schmerzlich vermissten. Da stellte sich eine Serie überdies vollkommen unverkrampft all den (jugendlichen) Problemen und Fragen rund um Sex und Intimität. Und sie vollbrachte das nicht nur ohne den Versuch, dabei pikant oder sexy zu sein, sondern erzählte sogar von viel mehr als von Erektionsstörungen und Chlamydienausbrüchen: Witzig und warmherzig ging es hier etwa auch um jugendliche Verletzlichkeit.

Mit der gerade erschienenen vierten und letzten Staffel kommt die bislang großartige britische Serie jetzt zu einem vergleichsweise schwachen Abschluss. Sie verliert nämlich ihre Leichtigkeit: Die Figuren rund um den niedlich-ungelenken Therapeutinnensohn Otis (Asa Butterfield), der ab der ersten Staffel eine Art Underground-Beratungsstelle an seiner Schule aufbaute, sind älter geworden. Sie wirken nicht nur aufgeklärt, sondern auch abgeklärt. Statt um (sexuelle) jugendliche Erweckungen geht es nun darum, mit der eigenen Identität klarzukommen.

Der Ton ist ernster geworden, das Bild zugleich umso bunter: Nachdem die Moordale Secondary School am Ende der dritten Staffel geschlossen wurde, wechseln die Protagonisten nun ans Cavendish College, das mit dem üblichen Biotop Schule nicht mehr viel zu tun hat: Am Dach des modernen Gebäudes wehen gleich mehrere unterschiedliche LGBT-Flaggen, davor wird Yoga gemacht. Drinnen teilt die Quasi-Schulsprecherin Abbi den Neuankömmlingen iPads in der Holzhülle aus und wacht darüber, dass die gelebte Toleranz nicht gestört wird. Wer hinter dem Rücken anderer über diese spricht, muss eine Münze in ihr „Gossip-Glas“ einzahlen.

Trans, nonbinär, asexuell, taub . . .

Die ungezwungene Selbstverständlichkeit, mit der in „Sex Education“ die Vielfalt der Sexualitäten behandelt wurde, hat im Serienbereich neue Standards gesetzt. Für die finale Staffel scheint man nun extra darauf bedacht gewesen zu sein, nur ja keinen Eintrag im Diversitätslexikon auszulassen: Abbi ist eine Transfrau, ihr Freund ein Transmann, ihre beste Freundin taub und queer, daneben gibt es nonbinäre und asexuelle Figuren unterschiedlichster Ethnien. Und während Eric (Ncuti Gatwa), an der alten Schule einer der wenigen offen schwulen Teenager, hier voll auflebt, hat Otis Probleme, hineinzupassen. Zumal es am Cavendish schon eine etablierte „Sex-Klinik“ gibt, geführt von einer smarten Schülerin namens „O“ (Thaddea Graham mit starkem nordirischen Dialekt), die ihr Therapiestüberl den „safest space“ nennt. Die regenbogenbunte Utopie hat aber auch Risse: Zwar gibt es hier eine Rutsche in die Aula und genderneutrale Klos, aber keinen funktionierenden Lift. Was die Fraktion der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung auf die Barrikaden treibt.

Auf ultimative Diversität wurde nicht nur bei den neuen Figuren geachtet – auch bei deren Kleidung, wo größtmögliche Farb-, Muster- und Texturenvielfalt herrscht.
Auf ultimative Diversität wurde nicht nur bei den neuen Figuren geachtet – auch bei deren Kleidung, wo größtmögliche Farb-, Muster- und Texturenvielfalt herrscht.Netflix

Klingt alles ein bisschen übertrieben? Ist es natürlich. Wobei „Sex Education“ schon immer überhöht und auch utopisch war: ein Konglomerat aus amerikanischer High-School-Kultur und britischer Coolness, in einem wundersamen idyllischen Land (gedreht wurde in und um Wales), wo ewiger Herbst herrscht, die Tage aber zugleich nie zu enden scheinen. Die betonte Diversität hier ist nicht nur ein Mittel für mehr Repräsentation von Randgruppen. Sie dient auch der großen Erzählung von „Sex Education“: Indem die Serie komplexe Identitäten ausleuchtet und Schulklassen zeigt, in denen fast jede Figur aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft ein Sonderfall ist, verdeutlicht sie, dass man anders sein kann, deshalb aber nicht alleine sein muss. In vier Staffeln wurde hier eine Realität skizziert, in der es kein Standardschema fürs Erwachsenwerden gibt. Dafür aber eine Gemeinschaft, die die Individualität jedes Einzelnen akzeptiert. Die Botschaft: „Es ist okay, zu fühlen, was du fühlst.“

„Meine Mutter versteht meine Identität nicht“

Diesen Trost brauchen auch in Staffel vier wieder einige. Otis tut sich schwer, die Beziehung zu Maeve (Emma Mackey) aufrechtzuerhalten, die für ein Begabtenprogramm in die USA gezogen ist und sich dort anhören muss, dass sie doch nicht so begabt sei. Eric fragt sich indessen, ob er Teil einer Kirchengemeinde bleiben kann, die ihn nicht voll und ganz akzeptiert. Cal, nonbinär und auf Testosteron, fühlt sich im eigenen Körper immer weniger wohl und klagt: „Meine Mutter versteht meine Identität nicht“. Aimee, die in einer früheren Staffel sexuell belästigt wurde, und Adam, der sein familiäres Coming-out als bisexuell und die schmerzhafte Trennung von Eric hinter sich hat, suchen noch ein bisschen nach sich selbst – sie in der Kunst, er auf einem Pferdehof. Auch sein Vater Mr. Groff, der als Schuldirektor einst das Sinnbild des alten, weißen, konservativen Mannes war, sucht in Staffel vier sanft und selbstkritisch seinen neuen Platz.

Besonders widmet sich Staffel vier den Problemen von Otis’ Mutter Jean (Gillian Anderson).
Besonders widmet sich Staffel vier den Problemen von Otis’ Mutter Jean (Gillian Anderson).Netflix

Eine gewisse Schwermut durchzieht viele der Handlungsfäden, die hier acht Folgen lang eher nebeneinander her mäandern. „Sex Education“ war schon einmal spritziger und spannender. Was die Serie immer noch gut kann: Große Emotionen in kleine Gesten packen. Und schonungslos auch die unangenehmsten Momente in den Blick nehmen. Etwa wenn Otis seine unsicheren Versuche, ein „sexy“ Nacktfoto für Maeve aufzunehmen, aus Versehen an die Schulleinwand projiziert – und alle nur den Kopf schütteln: Wollte er seiner Freundin im Ernst das Bild seines schlaffen Penis schicken? Immerhin lacht ihn niemand aus an dieser Vorzeige-Toleranz-Schule. Alle haben nur Mitleid. Was die Sache für Otis freilich nicht viel besser macht.

Die Teenies stehen für bessere Erwachsene

„Sex Education“ richtete sich nie nur an Jugendliche. Das zeigt die vierte Staffel besonders, indem sie Otis’ Mutter Jean und deren Probleme noch mehr in den Blick nimmt: Gillian Anderson spielt entrückter denn je die arrivierte Sexualtherapeutin, die ein neugeborenes Baby hat, das sie dauernd verlegt, es sich aber nicht nehmen lässt, eine Radioshow (mit der australischen Komikerin Hannah Gadsby als Produzentin) zu starten. Was eine postnatale Depression ist, weiß sie genau. Sie tut sich aber schwer, sich Hilfe zu holen.

Den Jugendlichen in der Serie fällt das leichter. Die Teenies stehen hier eigentlich für bessere Erwachsene: Sie sprechen reflektiert, können Fehler eingestehen, Gefühle zulassen, zu sich selbst ehrlich sein. All das darzustellen, ohne kitschig zu werden, ist eine Errungenschaft an sich. Allein dafür darf man „Sex Education“ immer noch feiern.

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