Culture Clash

Der Holocaust und Papst Pius XII.: Warum hat die ganze Welt kaum mehr gesagt?

Ein neu entdeckter Brief, den der Vatikan veröffentlicht hat, belebt den Diskurs um die Haltung von Papst Pius XII. zum Holocaust. Die eigentliche Kernfrage berührt er aber nicht.

Der Vatikan hat einen Brief veröffentlicht, in dem ein deutscher Jesuit dem Privatsekretär des Papstes am 14. Dezember 1942 Berichte über das Vernichtungslager Belzec bestätigt, „wo täglich bis zu 6000 Menschen, hauptsächlich Polen und Juden“ ermordet würden. Der Brief wurde mit dem Grundtenor „Also wusste der Papst Bescheid!“ medial rezipiert. Dabei ist längst bekannt, dass der Papst mehrfach im Jahr 1942 über den Völkermord an den Juden informiert wurde, sodass er dann zu Weihnachten öffentlich beklagte, dass „Hunderttausende Personen oft nur wegen ihrer Nationalität oder Abstammung dem Tod oder einer fortschreitenden Verelendung geweiht sind“. Von Zeitgenossen wurde das eindeutig auf das Schicksal der Juden bezogen, ist aber aus heutiger Sicht doch sehr wenig. Auch wenn heute feststeht, dass Pius hinter den Kulissen mitgeholfen hat, Tausende Juden zu retten, bleibt er dennoch für viele der Papst, der schwieg.

Die große Frage aber geht über Papst und katholische Kirche hinaus: Warum hat die ganze Welt kaum mehr gesagt? Und warum blieben handfeste Reaktionen aus? Churchill, Roosevelt haben öffentlich nicht viel mehr zum Holocaust gesagt als Pius XII. Eine Woche vor Weihnachten 1942 haben die elf alliierten Regierungen immerhin eine Erklärung abgegeben. Sie hat öffentlich – erstmals und in dieser Form auch nie wieder – den Tod „Hunderttausender völlig unschuldiger Männer, Frauen und Kinder“ gebrandmarkt und „in der entschiedensten Weise diese bestialische Politik der kaltblütigen Austilgung“ getadelt. Und das war’s. Im britischen Unterhaus gab es eine Schweigeminute, und auf der Titelseite der „New York Times“ eine Meldung als Einspalter unterhalb des Bugs. Der Pole Jan Karski, der damals sein Leben riskiert hatte, um den Alliierten die Fakten zur Kenntnis zu bringen, hat später seine Mission als „offensichtlichen Fehlschlag“ bezeichnet: „Sechs Millionen Juden starben, und niemand bot ihnen wirksame Hilfe. Keine Nation, keine Regierung, keine Kirche.“

Auch wenn die katholische Kirche sich moralisch anders messen lassen muss als weltliche Regierungen, so sollte man die Sache nicht isoliert an Papst Pius abarbeiten. Denn die Frage ist aktuell – angesichts des großen Leids von Millionen uns fremder Unschuldiger an anderen Orten der Welt: Wie sehr uns einmischen, wie sehr uns exponieren, welche Opfer verlangen und welche selbst bringen? Und was wäre überhaupt wirksame Hilfe? Was die Vergangenheit betrifft, können wir bequem Richter spielen. Aber im Dilemma der Gegenwart sind wir alle Papst.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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