Gastkommentar

Wo Europa blind ist und wo es verschlafen hat

Innen- wie außenpolitisch ist Europa trotz seines ­Riesenapparats ziemlich ideenlos und schwach!

Die Europäische Union funktioniert noch grosso modo nach den „Römischen Verträgen“ von 1957, die damals für sechs typisch westeuropäische Staaten galten und heute noch Realität für die 27 Mitgliedsländer sind.

Der international sehr präsente österreichische Bundeskanzler Josef Klaus (1966–1970) hat 1972 in einem Aufsatz geschrieben, dass seiner Überzeugung nach die „historischen Becken“ Europas wieder erstehen werden, jedoch nicht außerhalb, sondern innerhalb der europäischen Integration; das heißt, dass sich historisch gewachsene Einheiten von kleineren Staaten, die eine gemeinsame Geschichte haben, ökonomisch ähnliche Struk­turen und regionalpolitisch verwandte Interessen, zu „Transnationalen Verbänden“ zusammenschließen, von Brüssel eine Vielzahl an Kompetenzen delegiert bekommen und je nach internen Regeln einen Kommissar erwählen. Die benachbarten Großstaaten desgleichen.

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Schließlich wurde in Maastricht 1991/1992 das Subsidiaritätsprinzip beschlossen und sollte sich endlich durchsetzen. Die Kommission gehört politisch gestärkt mit den koordinierenden Kompetenzen wie gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, generelle Standards für ökonomische und ökologische wie soziale Mindeststandards für alle Mitglieder festlegend, die mehrheitlich im EU-Parlament beschlossen werden und damit Gültigkeit erlangen. Diese Reform sollte nicht vom Europäischen Rat, sondern in einer gut vorbereiteten EU-weiten Volksabstimmung beschlossen werden. Für die Seele, die Identifizierung der europäischen Bürger sollte neben Hymne und gemeinsamer Flagge eine Präsidentin oder Präsident gewählt werden.

Europa zögert

Europa war und ist blind, und wenn doch sehend, dann zögernd. Internationale „Engagements“ hat es eher den ehemaligen Kolonialmächten oder den USA überlassen; wenn es auch beispielsweise durch die EPA-Abkommen mit den Subsahara-Staaten deren Entwicklungschancen unter Berufung auf WTO-Regeln massiv einschränkt.

Europa hat dennoch verschlafen, dass Afrika de facto bereits zwischen Russland und China aufgeteilt ist – ein Kontinent, den wir Europäer in Zukunft brauchen werden, um nicht Gefahr zu laufen, eine Quantité négligeable im internationalen Konzert der multipolaren Welt zu sein; sonst werden wir zu einem nostalgischen Museum, in dem Syrer, Afghanen und Tunesier die Touristenscharen führen werden, denn die autochthonen Europäer selbst sind dann bereits frühzeitig ins Altenteil gegangen oder ausgestorben. Auch der extreme Islamismus wird stark spürbar sein, da es bis heute keine konkreten, europaweit koordinierten, nachhaltig wirksamen Maßnahmen gibt.

Auch im Südkaukasus und v. a. in Zentralasien wie in Nordafrika – mit Ausnahme der Flüchtlingsproblematik – ist Europa inaktiv. Europa hat noch immer nicht erkannt, dass sich geopolitisch die Machtzentren verschoben haben. Russland, China, Indien, Iran, Türkei und Saudiarabien mit den Golfstaaten sind diese Zentren. Dabei ist wichtig, in gegenseitiger Konkurrenz diese Zwischenräume kontrollieren zu können. Der Jemen, Syrien, Nagorny-Karabach sind da blutige Beispiele. Besonders Putin hat, von Europa überwiegend ignoriert,  hier bereits ganze Arbeit geleistet, indem er die starke Demokratiebewegung in Belarus 2020 oder den Antiregierungsaufstand 2022 in Kasachstan niedergeschlagen hat, die demokratischen Ansätze in Kirgisistan beseitigt und durch faktische Unterstützung Aserbaidschans eine blutige „Klärung“ in Nagorny-Karabach 2020 und dieser Tage erreicht; schon 2008 Georgien disziplinierte, und sich dabei gleich zwei Provinzen einverleibte; im syrischen Bürgerkrieg Städte wie Aleppo niederbombte; durch seine Wagner-Privatarmee die gesamte Sahel-Zone und deren Diktatoren unterstützt und in Sache Machterhalt „berät“. Jetzt fehlt ihm noch die Ukraine.

Jetzt fehlt noch die Ukraine

Die oben genannten international und regionalpolitisch agierenden Machtzentren sind ausschließlich Diktaturen unterschiedlicher Ausrichtung.

In den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und den beginnenden 2000er-Jahren hat es von Wien aus, von den USA aufmerksam beobachtete, vom österreichischen Außenminister bewusst ignorierte Versuche gegeben, de facto „Seidenstraßen“ in diese Länder durch konkrete, mit den dortigen Bewohnern und Regionalpolitikern entwickelte Projekte zu beider Nutzen zu realisieren. Damals waren die betroffenen Regime reformbereit, weil sie bemerkten, dass die islamistischen Agitationen der Taliban in deren Bevölkerungen durchaus Wirkung zeigen und damit auch für sie gefährlich werden! Um ihre Macht erhalten zu können, brauchen sie aktuell die „Hilfe“ Putins und/oder Xi Jipings zu jeweils deren Bedingungen.

Mit dem überstürzten Abzug der Amerikaner und Europäer aus Afghanistan im August 2021 haben sie nicht nur die dortige Bevölkerung den Retro-Islamisten ausgeliefert, sondern in der gesamten Region, die für Europa aus strategischen, ökonomischen, ideolo­gi­schen Gesichtspunkten so wichtig wäre, jeden Respekt verloren! Ebenso hat Donald Trump mit dem Abzug der US-Truppen aus Syrien die Kurden allein gelassen und so den Türken ausgeliefert – die Kurden, die mit US-Unterstützung den territorial verankerten, national und international terroristisch agierenden „Islamischen Staat“ vernichtet haben!

Gefahr aus Europa selbst!

Die fünften Kolonnen Putins in Europa sind – ähnlich den radikalen Republikanern in den USA – in der Wählergunst auf dem Vormarsch. Nicht durch eigene Leistungen, nein, durch ideologische Selbstaufgabe der personell ausgedünnten, nominell noch liberalen, christlich-demokratischen oder sozialdemokratischen Regierungsparteien mit deren ideenarmer, zögerlicher Politik, v. a. der dilettantischen, völlig verfehlten, jedoch verbal radikal begleiteten Antiflüchtlingspolitik wie auch durch die teilweise hausgemachte Teuerungspolitik; durch die verzögerten, halbherzigen Wirtschafts- und Landwirtschaftsreformen in Richtung Klima- und Naturschutz. Damit verlieren sie besonders junge Wähler.

Die radikalpopulistischen, neonationalistischen, antieuropäisch eingestellten Parteien leugnen die Notwendigkeit von Klima- und Naturschutzmaßnahmen – trotz der auch hier stattfindenden Naturkatastrophen. Aber diese Parteien sprechen primär Unterschichtsgruppen mit meist geringer Bildung an; bekommen jedoch immer mehr Proteststimmen aus der Mittelschicht, auch wenn diese von den populistischen Vorhaben nicht wirklich überzeugt sind – ein paradoxer, aber realpolitisch existierender Wählertrend.

Sollten diese Populisten und Neonationalisten mit autoritären Tendenzen Richtung „illiberaler Demokratie“ à la Orbán, Vučić oder Kaczynski peu à peu in EU-Europa an die Macht kommen, wird die Unterstützung der Ukraine (mit Ausnahme von Polen und den baltischen Staaten) sofort eingestellt, und europäische Integrationsmaßnahmen, die EU selbst zur Diskussion gestellt.

Wollen wir das? 

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

A. Hendler

Rainer Stepan ist Historiker und Sozialwissenschaftler, inzwischen in Pension. Früher enger Mitarbeiter von ÖVP-Chef Alois Mock. Studiendirektor an der Diplomatischen Akademie und zuletzt in der Außenpolitik der Stadt Wien tätig.

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