Historiker Gerd Koenen über Putins Versuche, globales Chaos zu stiften, Russlands Ängste vor dem Zerfall und den Traum der Putinisten, der auch Österreichs Albtraum wäre.
Die Presse: Wie würden Sie den Putinismus beschreiben?
Gerd Koenen: Es ist eine wüste Mischung. Zuallererst handelt es sich um ein politisches System, in dem Putin sogar in Fragen von Krieg und Frieden der Letztentscheidende ist und sich nur mit einem sehr engen Kreis berät. Es gibt stalinistische Elemente, etwa die Rolle des Geheimdienstes, aus dem Putin ja kommt. Es gibt klar faschistisch-demagogische Elemente, und dazu einen pseudoreligiösen orthodoxen Fundamentalismus, der von den Islamisten in Teheran die Formel vom „Satanismus“ des moral- und sittenlosen Westens übernommen hat, mit dem Russland unterminiert und moralisch zersetzt werden soll. Das eigentlich Fatale ist, dass Putin sein eigenes Schicksal an diesen Eroberungskrieg gebunden hat. Die Frage ist, warum man ihm dabei folgt.
Also: Warum folgt das Volk Putin mehrheitlich in den Ukraine-Krieg?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Einerseits gibt es eine reale Ohnmacht der Gesellschaft. Man hat sie systematisch mundtot gemacht, indem alle aktiven Gegenkräfte ausgeschaltet wurden. Und sie hat es auch schwer, sich als Gesellschaft zu sehen und zu organisieren, schon allein wegen der schieren Ausdehnung des Landes und dessen Heterogenität. Und Ohnmacht erzeugt Apathie. Es gibt aber auch eine reale Angst vor dem Zerfall. Ich habe einmal die Formel gebraucht: „Raum ohne Volk“. Gemeint ist, dass es Russland kaum schafft, das produktiv zu bewirtschaften, was es heute hat. Putin schürt diese Ängste und erklärt seinem Volk: „Wir werden Weltmacht sein oder wir werden gar nicht sein.“
Halten Sie die Sorgen vor dem Zerfall für berechtigt?