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Warum macht dieses Twittern süchtig?

Ob altes Twitter oder neues X: Die Plattform funktioniert wie ein Witz.
Ob altes Twitter oder neues X: Die Plattform funktioniert wie ein Witz.Imago
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Es ist ein Kreuz mit X, das früher Twitter hieß. Warum tun wir uns das an? Ein US-Philosoph klärt uns auf.

Als Angela Merkel erklärte: „Der Islam gehört jetzt zu Deutschland“ – wie reagierte da Donald Trump? Er griff das erste Mal in seinem Leben zu einem Atlas und knurrte: „Verdammt, wo sind die jetzt wieder einmarschiert?“

Das ist, falls Sie es nicht bemerkt haben, ein Witz. Dass man ihn einigermaßen lustig findet, setzt einiges voraus: Man muss das historische Klischee vom Expansionsdrang der machthungrigen Deutschen kennen. Und das aktuelle, dass Trump ein ungebildeter Tölpel ist, der von Geografie keine Ahnung hat. Und vor allem finden, dass dahinter zumindest ein Körnchen Wahrheit steckt. So etwas erklärend mitzuliefern, würde die Pointe verraten, den Witz zerstören. Bis zum Ende muss offenbleiben: Hat das Publikum das nötige Hintergrundwissen, teilt es meine Einstellung? Schlimm ist, wenn niemand lacht, alle verständnislos dreinschauen. Wer einen Witz erzählt, macht sich verletzlich, geht ein Risiko ein. Die Spannung löst sich auf im Gelächter, das wir auch deshalb als befreiend empfinden. Sich über dasselbe zu erheitern, schafft Vertrautheit, Nähe, das schöne Gefühl: Wir verstehen uns. Ein Gefühl, das süchtig machen kann.

Das ist, grob skizziert, die Theorie des Witzes, die der US-Philosoph Ted Cohen 1999 entwickelt hat. Sein junger Kollege Thi Nguyen von der University of Utah hat sie verblüffend umgepflanzt: Genauso, erklärt er uns, funktioniert auch Twitter, die Plattform, die nun X heißen soll. Denn die 280 Zeichen für einen Tweet reichen bekanntlich nicht aus, um einen kohärenten Gedanken zu formulieren oder gar die komplette Geschichte zu erzählen. Deshalb wimmelt es auf Twitter von ironischen Anspielungen, kurzen Andeutungen, beredten Auslassungen. Das verstehen nur Eingeweihte. Die Botschaft richtet sich an Menschen, die mein Wissen teilen, meine Moral oder meinen schrägen Humor.

Ich muss darauf vertrauen, dass ich die Richtigen erreiche, weil ich mich großteils an Unbekannte richte, wie der Komödiant auf der Kabarettbühne. Nguyen vergleicht es mit einem „trust fall“, jener Vertrauensübung, die sich Teamcoaches in Firmen von den Stagedivern bei Rockkonzerten abgeschaut haben: Man lässt sich rücklings in eine Menge fallen, in der Hoffnung, dass die da unten nicht ausweichen, sondern mich auf Händen tragen. Was für ein erhebendes Gefühl! Wie auf Twitter, wenn meinen Tweet viele lesen, mir Herzen schicken und lachende Gesichter. Das funktioniert auch meistens, weil ich mich in meiner Blase bewege, meiner „Twitteria“, einem Zirkel von Berufskollegen, Gleichgesinnten oder Leidensgenossen. Freilich, so hoffe ich, einem möglichst großen: Herrlich zu sehen, wie viele so ticken wie ich. Je mehr Applaus ich bekomme, desto sicherer fühl ich mich – und formuliere immer kecker. So hat diese Plattform ein Belohnungssystem eingebaut, mit starkem Suchtpotenzial, aber auch eine böse Falle: den Retweet.

Da kriegt jemand meine Botschaft in die falsche Kehle und teilt sie mit allen seinen Followern. Sie verstehen meine Scherze nicht, nehmen Ironie wörtlich, weil ihnen der Zusammenhang fehlt. „Context collapse“ nennen Forscher das. Ein paar solch missglückter Multiplikatoren, und schon habe ich einen wüsten Shitstorm am Hals. Jetzt sind es die anderen, die sich im wohligen Gefühl der Vertrautheit suhlen, als dem Lohn für geteilte Empörung. Was lernen wir aus Nguyens Theorie? Dieses Twitter/X ist ein Witz, mit einer ganz schlechten Pointe. Wir sind beeindruckt. Und folgen dem Philosophen: auf @add_hawk. Wo sonst?

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