Voodoo Jürgens (r.) in „Rickerl“ von Adrian Goiginger.
Filmfestival

Was man heuer bei der Viennale sehen sollte

Die 61. Viennale steht vor der Tür und lockt wie gewohnt mit einer überbordenden Auswahl. Wir haben die Highlights des Filmfests für Sie zusammengefasst.

Am 19. Oktober eröffnet die Viennale ihre 61. Ausgabe, ab kommenden Samstag kann man Tickets erstehen. Wie immer erfreut und überfordert das größte heimische Filmfestival mit einer üppigen und eklektischen Auswahl, bei der man nicht weiß, wo man mit dem Schauen anfangen soll. Vielleicht beim heißesten Arthouse-Blockbuster? Beim obskuren Geheimtipp? Oder doch bei der Once-in-a-Lifetime-Retrospektive? Fragen über Fragen, die manch einen Cineastenkopf brummen machen. Keine Sorge: Wir haben einen kleinen Wegweiser erstellt, um Orientierungsbedürftigen durch das filmische Dickicht zu helfen. Würden Sie gerne wissen, was Sie bei der Viennale 2023 auf keinen Fall verpassen dürfen? Hier finden Sie eine mögliche Antwort.

Stolpernd ins Oscar-Rennen: „Poor Things“ mit Emma Stone

Ramy Youssef und Emma Stone in „Poor Things“.
Ramy Youssef und Emma Stone in „Poor Things“.Yorgos Lanthimos / 20th Century Studios

An diesem Film gibt es heuer kein Vorbeikommen – nicht nur für Cineasten, die den kometenhaften Aufstieg des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos („The Favourite – Intrigen und Irrsinn“) vom europäischen Kunstkino-Sonderling zum international gefeierten Oscar-Anwärter von Anfang an mitverfolgt haben. Seit der abgründigen Paarbeziehungs-Satire „The Lobster“ zielt Lanthimos auf ein immer breiteres Publikum ab, ohne dabei seine im besten Sinn sonderbare Sensibilität über Bord zu werfen. Sein jüngster Streich, eine eigentümliche Kreuzung aus Kostümfilm, Fantasymärchen und Sozialsatire, stellt den bisherigen Kulminationspunkt dieser Entwicklung dar. „Poor Things“ handelt von Bella Baxter (enthemmt: Emma Stone), die ihr Leben als „Schöpfung“ eines kauzigen Wissenschaftlers (Willem Dafoe) beginnt. Betört von einem eitlen Schwerenöter (köstlich: Mark Ruffalo) stolpert die unbedarfte, aber keinesfalls unmündige junge Frau in die weite Welt hinaus, wo sie die Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins im tragikomischen Schnelldurchlauf durchexerziert. Ein Fest für Augen, Ohren, Herz, Hirn und Zwerchfell, das diesen Herbst völlig verdient beim Filmfest von Venedig den Hauptpreis davontrug.

Austro-Kino ahoi: „Club Zero“, Voodoo Jürgens & Co.

Voodoo Jürgens (r.) in „Rickerl“ von Adrian Goiginger.
Voodoo Jürgens (r.) in „Rickerl“ von Adrian Goiginger.Alessio M. Schroeder / Viennale

Im Vergleich zu ihrem verschiedenen Vorgänger Hans Hurch hat die amtierende Viennale-Leiterin Eva Sangiorgi ein großes Herz für Austro-Kino. Heuer ist der Anteil von Beiträgen heimischer Herkunft zum Festivalprogramm besonders ansehnlich. Aushängeschild: Jessica Hausners jüngste, in Cannes uraufgeführte Arbeit „Club Zero“. Der auf Englisch gedrehte, stark stilisierte Film pendelt zwischen Drama, Thriller und Satire, er handelt von einem Ernährungskult an einer Eliteschule. Und wirkt dabei wie ein Kommentar auf unsere Empfänglichkeit für Fake News und Desinformation. Mit Spannung erwartet wird von vielen auch Adrian Goigingers „Rickerl“, in dem der Wiener Neo-Austropopper Voodoo Jürgens einen vazierenden Musiker – also quasi „sich selbst“ – spielt. Jürgens ist zudem in Sofia Exarchous internationaler Co-Produktion „Animal“ zu sehen, diese handelt von Animateuren in einem griechischen Inselhotel. Um Glanz und Elend des Massentourismus (diesfalls in Italien) geht es übrigens auch im Dokumentarfilm „Vista Mare“ von Florian Kofler und Julia Gutweniger. Weitere interessante Viennale-Filme aus Österreich gefällig? Bitte sehr: Gezeigt werden uner anderem Sudabeh Mortezais neues Drama „Europa“, das sich kritisch mit dem Ost-West-Gefälle in der EU auseinandersetzt, Nikolaus Geyrhalters Lockdown-Doku „Stillstand“, Martha Mechows vogelwilde Feminismus-Fantasie „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“ und „The Klezmer Project“ von Leandro Koch und Paloma Schachmann – ein Essayfilm, der sich in Osteuropa auf zwanglose Spurensuche nach den verschütteten Wurzeln jüdischer Volksmusik begibt.

Die Queen und der King: „Priscilla“ von Sofia Coppola

„Priscilla“ von Sofia Coppola.
„Priscilla“ von Sofia Coppola.A24 / Viennale

Sofia Coppola („Lost in Translation“) ist zurück, mit einem Film über Priscilla Presley, der sich als unaufdringliches feministisches Korrektiv zum laufenden „King“-Revival versteht und die „Queen“ aus dem Schatten von Elvis in den Fokus rückt. Cailee Spaeny spielt die Frau an der Seite des Pop-Superstars, dessen Launen und Kontrollwut sie sich unwillkürlich unterordnet – der eingangs zärtlich porträtierten Liebe halber.

Gefeiert in Cannes: „Anatomie eines Falls“ mit Sandra Hüller

„Anatomie d‘une chute“ von Justine Triet.
„Anatomie d‘une chute“ von Justine Triet.Viennale

Die Cannes-Gewinner der Jahre 2021 („Titane“) und 2022 („Triangle of Sadness“) feierten in Wien nicht auf der Viennale, sondern beim genre-orientierten Slash-Filmfestival Premiere. Man darf davon ausgehen, dass ihr Spiel mit transgressiver Gewalt bzw. Ekel-Humor der Festivalleitung zu deftig war. Der heurige Cannes-Hautpreisträger, „Anatomie eines Falls“ von der französischen Regisseurin Justine Triet, fügt sich nun wieder perfekt ins Viennale-Beuteschema: Ein vielschichtiges Gerichtsdrama über eine Autorin, gespielt von der fantastischen Sandra Hüller („Toni Erdmann“), die sich für den Tod ihres Ehemannes verantworten muss. War es ein Unfall? Mord? Irgendetwas dazwischen? Wie sich herausstellt, ist die Wahrheit oft eine Frage der Perspektive.

Frisch aus den USA: „The Holdovers“ mit Paul Giamatti und „All of Us Strangers“ mit Paul Mescal

Paul Giamatti (m.) in „The Holdovers“ von Alexander Payne.
Paul Giamatti (m.) in „The Holdovers“ von Alexander Payne.Seacia Pavao / Focus Features

Die Zeiten, in denen die europäischen A-Festivals Cannes, Berlin und Venedig alle großen Namen des Weltkinos nahezu ausnahmslos an sich gebunden hatten, scheinen vorbei: Immer öfter feiern neue Werke vor allem englischsprachiger Regie-Granden in Übersee Premiere, z. B. bei exklusiven Events wie dem Telluride Film Festival in Colorado. Keine Sorge: Die Viennale kümmert sich um sein cineastisches Publikum. Und holt auch diese Gustostückerl nach Wien. So etwa „The Holdovers“ von Alexander Payne („Sideways“), eine im Stil der 1970er-Jahre aufgemachte Dramödie über einen mürrischen Lehrer (Paul Giamatti), der sich widerwillig um Schüler einer privaten High School kümmern muss, die währen der Weihnachtsferien nicht nach Hause können. Oder „All of Us Strangers“ von Andrew Haigh („Weekend“), in der ein Londoner Ende vierzig (Andrew Scott) mit einem jüngeren Mann (gespielt vom aufstrebenden irischen Star Paul Mescal) anbandelt – und sich zugleich mit seinen Eltern beschäftigt. Diese sind seit Jahren verstorben, leben aber in der poetischen Vision des Films auf wundersame Weise weiter.

Tote und lebende Legenden: Raúl Ruiz und Catherine Deneuve

Catherine Deneuve in „Généalogies d’un crime“ von Raúl Ruiz.
Catherine Deneuve in „Généalogies d’un crime“ von Raúl Ruiz.Viennale

Die traditionell in Kooperation mit dem Österreichischen Filmmuseum ausgerichtete Hauptretrospektive der Viennale widmet sich heuer dem chilenisch-französischen Regie-Chamäleon Raúl Ruiz, dessen schillerndes, ausuferndes Œuvre alle möglichen Genres und Stile umfasst. Ruiz hat im Laufe seiner langen Karriere mit vielen kunstsinnigen Schauspielgrößen zusammengearbeitet, etwa mit John Malkovich für die Malerbiografie „Klimt“ – oder mit Nouvelle-Vague-Legende Catherine Deneuve, die u. a. 1999 Ruiz’ opulente Proust-Adaption „Die wiedergefundene Zeit“ veredelte. Zum Glück aller Fan-Herzen wird Deneuve Wien im Herbst einen kurzen Besuch abstatten, für eine Galavorführung des Films am 26. 10. im Wiener Gartenbaukino. Wer sich eher für Ruiz und seine Landsleute interessiert, sollte im Übrigen ein anderes Viennale-Special dieses Jahres nicht verpassen, das die Geschichte des chilenisches Films in den Blick nimmt: „Widerstand, Erinnerung, Neuerfindung“.

Endlich Frischluft: „La chimera“ von Alice Rohrwacher

„La chimera“ von Alice Rohrwacher.
„La chimera“ von Alice Rohrwacher.Viennale

Dass das neue Wunderwerk der Italienerin Alice Rohrwacher in Cannes etwas untergegangen ist, zeugt nicht von seiner minderen Qualität, sondern von der Unfähigkeit des Festivalzirkus, mit Filmen umzugehen, die sich nicht umstandslos auf einen Nenner bringen lassen. „La chimera“ ist jedenfalls einer der schönsten und stimmungsmäßig lebendigsten Filme des diesjährigen Viennale-Programms: Eine Art rustikaler „Indiana Jones“ voller Humor, Melancholie und Ita­li­a­ni­tà, gedreht an den Ufern des Tyrrhenischen Meeres und auf mannigfaltigen Analog-Film-Formaten. Er handelt von einem Briten (Josh O’Connor), der sich im ländlichen Italien auf der Suche nach dem Geist einer verlorenen Liebe mit einer örtlichen Grabräuber-Bande zusammentut. Wer sich bei Streifzügen durch die zeitgenössische Filmlandschaft fühlt wie in einer KI-genrierten (und anschließend vakuumverpackten) Plastikkulisse, wird hier endlich durchatmen können.

Viennale animiert: „The Boy and the Heron“ von Hayao Miyazaki und „The First Slam Dunk“ von Inoue Takehiko

„The Boy and the Heron“ von Hayao Miyazaki.
„The Boy and the Heron“ von Hayao Miyazaki.Viennale

Es ist zwar nicht das erste Mal, dass sich japanische Animationsfilme in die erhabenen Kunstfilmgefilde der Viennale verirrt haben, aber es fühlt sich doch frisch an, zumal das Wiener Filmfestival heuer mit gleich zwei veritablen Anime-Blockbustern im Hauptprogramm aufwartet: Einerseits läuft Hayao Miyazakis jüngstes, wieder einmal als „Abschiedswerk“ vermarktetes Fantasy-Epos „The Boy and the Heron“ (auf Deutsch: „Der Bub und der Reiher“), das autobiografisch grundiert sein soll. Zu entdecken gibt es überdies Takehiko Inoues Hit „The First Slam Dunk“, ein mitreißendes Sportdrama alter Schule in ausgefallener Zeichentrickform.

Krankengeschichten: „Notre corps“ von Claire Simon

„Notre corps“ von Claire Simon.
„Notre corps“ von Claire Simon.Viennale

Dass (feministisches) Filmschaffen von Frauen unter Eva Sangiorgi verstärkt in den Vordergrund der Viennale gerückt ist, lässt sich nicht leugnen: Wenn der Eröffnungsfilm des Festivals (das ungarische Ensembledrama „Explanation for Everything“) von einem Mann stammt, wie es heuer der Fall ist, fällt das beinahe schon aus dem Rahmen. Auch dieses Jahr finden sich einige engagierte und künstlerisch ambitionierte Filme von Regisseurinnen im Programm, doch einer davon muss hier besonders hervorgehoben werden: „Notre corps“ von Claire Simon. Der schnörkellose Dokumentarfilm taucht ein in den Alltag der gynäkologischen Abteilung eines Pariser Krankenhauses und lässt die Zuschauer daran teilhaben, wobei der Schwerpunkt vor allem auf dem empathischen Austausch zwischen ÄrztInnen und PatientInnen liegt, auf Anamnesegesprächen und Operationsvorbereitungen: Dabei geht es beiläufig um Krankheit und Heilung, Geburt und Tod, Gender und Gesellschaft. Langweilig ist dieser knapp dreistündige Rundblick, dessen politische Haltung auch ohne erhobenen Zeigefinger deutlich wird, nie: Leidenschaftliches und weltoffenes Bildungskino für alle Geschlechter.

Spaß mit Quentin Dupieux: „Daaaaaali!“ und „Yannick“

 „Daaaaaali!“ von Quentin Dupieux.
„Daaaaaali!“ von Quentin Dupieux.Viennale

An Filmen mit Überlänge mangelt es der diesjährigen Viennale nicht. Etliche Beiträge pendeln sich jenseits der Dreistundenmarke ein. Wer Würze in der Kürze (und pointiertes surreales Vergnügen) sucht, ist hingegen mit den Filmen von Quentin Dupieux gut beraten. Diese zählten einst zum Grundstock des Slash-Filmfestivals, inzwischen hat sie die Viennale für sich beansprucht. Was für sie spricht, ist zunächst ihre verlässliche Kompaktheit, länger als 90 Minuten dauern sie so gut wie nie. Weiters ihr trockener Witz, der einen Hang zum Spielerisch-Absurden aufweist. Die Viennale zeigt heute gleich zwei neue Werke des produktiven Franzosen: Die Künstlersatire „Daaaaaali!“ (sic!) und „Yannick“, eine hintersinnige Sottise gegen plumpes Boulevardtheater. Mit diesem circa einstündigen Amüsement bricht das Wiener Filmfest am 31. Oktober kurzweilig seine Zelte ab, um sein Publikum mit einem Lächeln in die derzeit nicht allzu lustige Wirklichkeit zu entlassen.

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