Brüssel-Briefing

Die Union der Zauberlehrlinge

Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, Roberta Metsola, Präsidentin des Europaparlaments, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, am Mittwoch im Europaparlament bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Hamas-Terrors.
Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, Roberta Metsola, Präsidentin des Europaparlaments, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, am Mittwoch im Europaparlament bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Hamas-Terrors.Imago / Benoit Doppagne
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Die Explosion im Nahen Osten veranschaulicht, wie inhaltsleer das Gerede von der „geopolitischen EU-Kommission“ – und wie stark die Europäer weiterhin vom militärischen Schutzschild der USA abhängig sind.

Brot und Kanonen: wer hätte vor Kurzem noch gedacht, dass sich die EU mit den existenziellen Fragen befassen muss, wie sie die Lieferung von Getreide an die Weltmärkte und Waffen zur Verteidigung einer souveränen Demokratie gegen eine imperialistische Autokratie befassen muss? Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Europäer seit knapp 20 Monaten gezwungen, geopolitisch zu denken. Aber was heißt gezwungen? Schon 2019, zu ihrem Amtsantritt, verkündete Ursula von der Leyen, sie wolle eine „geopolitische Kommission“ führen. Was das konkret heißt, versteckt sich seit in zahllosen Laufmetern an wortreichen Reden, Think-Tank-Papieren und politikwissenschaftlichen Abhandlungen. Am ehesten kann man es auf diesen Nenner bringen: Europa muss sicherheitspolitisch unabhängig von den USA werden.

Das mutet bisweilen ein wenig wie das Begehren von Goethes Zauberlehrling an, in Abwesenheit des alten Hexenmeister die Besen endlich einmal nach seinem eigenen Willen tanzen zu lassen. Wie das im Reich der Poetik ausgeht, weiß vermutlich jeder Maturant. Und auch in der politischen Realität muss man wie schon während der jugoslawischen Zerfallskriege in den 1990er-Jahren festhalten: die europäischen Zauberlehrlinge mögen „die Stunde Europas“ gekommen sehen. Doch das Schlamassel, das sie binnen kurzer Zeit veranstalten, kann erst der heimkehrende Zaubermeister wieder aufräumen.

Munitionslieferungen stottern

Der Krieg in der Ukraine führt die sicherheitspolitisch Abhängigkeit der Europäer von den USA schonungslos vor Augen. Frankreich und Deutschland brauchten bei jeder Waffengattung, um welche die Ukrainer den Westen anflehten, erst den Fingerzeig aus Washington, um sich – stets viel zu spät – zu eigenen Lieferungen durchzuringen. Auch die nun zaghaft anlaufenden Schulungen für ukrainische Piloten auf F-16-Kampfflugzeugen durch mehrere EU-Staaten sowie die Lieferung einiger Apparate durch Dänemark und Belgien ab dem kommenden Frühjahr kam erst zustande, als die Amerikaner ihren Sanktus dazu erteilten. Und wie sieht es mit der Lieferung von Munition aus? Eher düster. Rund 250.000 Schuss 155-Millimeter-Granaten haben die Mitgliedstaaten seit dem Frühjahr geliefert. Eine Million bis Jahresende wäre das Ziel. Auch wenn die liefernden Mitgliedstaaten erst gegen Ende dieser Frist die Reste in ihren Arsenalen zusammenkratzen, wie mir ein europäischer Diplomat neulich versicherte: die Million wird sich kaum ausgehen. Und vom groß angelegten Ausbau der europäischen Munitionsindustrie ist bisher mangels ausreichend umfassender Bestellungen durch die Mitgliedstaaten auch noch nicht viel zu sehen.

Mit dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer begann die geopolitische Ernüchterung der Europäer. Soll man hier noch erwähnen, dass die logistischen Probleme mit der Ausfuhr ukrainischer Feldfrüchte von den Ukrainern selbst gelöst wurden, indem sie geschickt und strategisch die russische Schwarzmeerflotte unter Beschuss nahmen und zur Verlagerung an die abchasische Küste gezwungen haben? Die EU hat mit viel Selbstlob „Solidaritäts-Spuren“ eröffnet. Die haben aber nur den Effekt gehabt, die bedenklich schwache Unterstützung für einen ukrainischen EU-Beitritt in Nachbarländern wie Polen, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Ungarn offenzulegen.

Orbáns Mann in Brüssel sorgt für Chaos

Die Eskalation des Nahost-Konflikts (wobei „Konflikt“ eine Verharmlosung ist) vollendet die Einsicht darin, dass die Europäer auf der Weltbühne außer Händeringen und Mahnen kaum etwas tun können – und sich im schlimmsten Fall selbst im Weg stehen. Das Trauerspiel, welches die Kommission seit Montag in der Frage liefert, ob die Hilfszahlungen an die Palästinenserbehörde sowie die humanitäre Hilfe für Gaza weiterlaufen sollen, überprüft werden oder ganz einzustellen sind, veranschaulicht die europäische Hilflosigkeit. Der ungarische Kommissar Olivér Várhelyi scheint völlig losgelöst und betreibt eine Privatdiplomatie, von der er sich nicht einmal abbringen lässt, wenn ihn Vizepräsident Josep Borrell und die Mehrheit der EU-Außenminister zurückpfeifen. Es ist in Brüssel ein offenes Geheimnis, dass Várhelyi eben nicht, wie man uns Korrespondenten stets so salbungsvoll einzubläuen versucht, zu Beginn seines Mandates seinen ungarischen Pass abgegeben hat. Er ist in Wirklichkeit ein treuer Erfüllungsgehilfe von Ministerpräsident Viktor Orbán.

Von der Leyen wiederum muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie ihre Mannschaft noch im Griff hat. Durch die Pandemie hat sie die Kommission ziemlich gut geführt, im Ukrainekrieg findet sie zumindest den richtigen Ton – aber seit dem Überfall der Hamasterroristen auf Israel am Samstag wächst der Verdacht, dass von der Leyen nicht das Zeug für strategische Geopolitik hat. Gebetsmühlenartig wiederholt sie, unerschütterlich an der Seite Israels zu stehen. Doch was heißt das konkret? Die USA können einen, möglicherweise sogar einen zweiten Flugzeugträger vor Israels Küste schicken, um den Iran von dummen Ideen abzuhalten. Was kann die EU? Nichts.

Deal mit Katar, Treffen in D.C.

Und schlimmer noch: während in Brüssel, Berlin, Paris über „strategische Autonomie“ doziert wird, treffen Europas Regierungen Entscheidungen, die ebendiese untergraben. Wie ist es zu erklären, dass Frankreichs größter Energiekonzern Total soeben ein Erdgas-Abkommen mit Katar geschlossen hat: Laufzeit 27 Jahre. Wollten wir nicht 2050 klimaneutral sein? Und wollen wir wirklich eine neue energiepolitische Abhängigkeit von Katar, einem der größten Sponsoren der Hamas?

Nächsten Freitag treffen von der Leyen und Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, Joe Biden im Weißen Haus. Mehr als Bittsteller werden sie dort nicht sein können. Europas Union der Zauberlehrlinge kann nur hoffen, dass – um in Goethes Gedicht zu bleiben – der alte Hexenmeister auch nach der Präsidentenwahl im nächsten Jahre einspringen kann, um für Ordnung zu sorgen.

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