Warum nur taumelt Inès Bayards Protagonistin so wehrlos durchs Leben? „Steglitz“ ist überraschend bis zur letzten Seite.
„Als Leni Müller an diesem Morgen die Schlafzimmervorhänge aufzog, freute sie sich über den Schnee.“ Es ist ein sehr behütetes Leben, das die Protagonistin da im Berliner Stadtteil Steglitz führt. Ginge es nach ihr, würde sich daran nie etwas ändern. Doch schon ein paar Sätze später bekommt das Bild Schieflage. Leni serviert ihrem Mann, einem erfolgreichen Architekten, das Frühstück, und er verlangt von ihr, dass sie ihm die Zeitung holt, obwohl sie krank ist. Zu ihrer Enttäuschung fährt er einige Tage zu seiner Baustelle auf Rügen.
Dann wird es immer seltsamer. In einer Bar trifft Leni eine Frau, die sie erst im Gespräch als ihre Mutter erkennt. Ein Fremder auf einer Parkbank entpuppt sich als ihr schuldgeplagter Vater. Oder ist er es doch nicht? Jedenfalls trabt dieser Mann durch den Schnee davon und erschießt sich, noch in Sichtweite, unter einem Baum. Oder wird er gar erschossen? Dann steht Lenis krimineller Bruder vor der Tür und delogiert sie, scheinbar auf Geheiß ihres Architektengatten. Ohne Geld schickt er sie in eine üble Spelunke, wo sie von sechs Uhr früh bis zwei Uhr nachts gegen Kost und Logis schuften muss. Leni setzt dem nichts entgegen, meint, es sei ein Familienbetrieb, begreift nicht, in welchem Etablissement sie da gelandet ist.
Erst nach und nach wird klar, was sich da abspielt und dass Lenis somnambule Art auf ein schweres Trauma in der Kindheit zurückgeht. Nichts ist in diesem Roman vorhersehbar.
