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Der „schwarze Samstag“ für Israels Sicherheitsapparat

Peter Kufner
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Fünf Gründe, warum Israel am 7. Oktober überrascht wurde und der Hamas ihr Terrorgroßangriff gelang.

Als Erster streute sich der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Generalleutnant Herzi Halevi, Asche aufs Haupt: „Die Verantwortung für die Sicherheit Israels wurde auf unsere Schultern gelegt, und wir haben versagt. Das Militär hat dabei versagt, sich um die Sicherheit seiner Bürger in der Gegend um den Gazastreifen zu kümmern.“

Es folgte der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ronen Bar: „Trotz einer Anzahl von Maßnahmen, die wir ausgeführt haben, waren wir am 7. Oktober nicht imstande, die nötige Abschreckung zu bewerkstelligen, um den Terrorangriff der Hamas zu vereiteln.“

Und schließlich meldete sich noch Generalmajor Aharon Haliva zu Wort, der Chef des israelischen Militärgeheimdienstes Aman: „Der Krieg hat mit einem geheimdienstlichen Versagen begonnen“, entschuldigte er sich in einem Brief an die Militärangehörigen. „Wir haben unsere wichtigste Aufgabe nicht erfüllt, und ich trage die volle Verantwortung für dieses Versagen.“ Seit zwei Wochen wird in Israel und rund um den Globus darüber diskutiert und spekuliert, warum ausgerechnet die Nachrichtendienste des Judenstaates, die zu den besten Geheimdiensten der Welt gezählt werden, am 7. Oktober dermaßen vom Terrorangriff der Hamas auf dem falschen Fuß erwischt werden konnten.

Immerhin galten die israelischen Grenzbefestigungen zum Gazastreifen als nahezu unüberwindbar und die Überwachung der Aktivitäten der Terrororganisation dort durch Abhören der Kommunikation, Aufklärung aus der Luft sowie Informanten im Feindgebiet als nahezu lückenlos.

Aber warum war es dann nicht gelungen, von einer derart großen Angriffsoperation, an der 1500 Terroristen beteiligt waren und die seit Monaten sorgfältig geplant, koordiniert und geübt worden war, rechtzeitig Wind zu bekommen? Haben da die Nachrichtendienste schon Fehler beim Sammeln der Informationen gemacht? Oder gab es zwar zutreffende Informationen, die wurden aber falsch analysiert und interpretiert? Gewiss scheint nach dem bisherigen Stand der Dinge:

Verkennung der Hamas: Israels Geheimdienste unterschätzten offenkundig die Fähigkeit der Hamas, militärisch zu kalkulieren und Planungen geheim zu halten, sich (militär-)technisch zu verbessern, Waffenarsenale anzuhäufen, zu tarnen und zu täuschen.

Über Kanäle, von denen die Hamas wusste, dass sie abgehört werden, kommunizierten sie, dass sie kein Interesse hätten, einen größeren bewaffneten Konflikt anzuzetteln, und führten die Israelis so in die Irre. Die öffneten die Grenze für 18.500 Arbeiter aus dem Gazastreifen, weil sie hofften, wirtschaftliche Verbesserungen könnten in dem verarmten und übervölkerten Küstenstreifen zur Deradikalisierung der dortigen Bevölkerung beitragen.

Tatsächlich spionierten etliche dieser „Arbeiter“ Ziele in Südisrael aus, die am 7.10. dann angegriffen wurden. Am 12.9. sollen die Hamas und weitere palästinensische Extremistengruppen im Gazastreifen ihren Terrorangriff sogar geübt haben, ohne dass bei den israelischen Nachrichtendiensten die Alarmglocken losgingen.

Übervertrauen in die Technik: Die Grenze zum Gazastreifen mit hohen Zäunen, Kameras, Luftüberwachung durch Drohnen, elektronischen Abhöreinrichtungen, Gesichtserkennungssoftware an Kon­trollpunkten sowie Militärbasen in der Nähe galt als eine der am besten abgesicherten der Welt. Israel sah sich dank seiner Überwachungstechnik an der Schwelle zur Supermacht der künstlichen Intelligenz, wie ein General erklärte.

Doch in einer Art „Blitzkrieg“-Strategie gelang es der Hamas, mit Drohnen Kameras, Warnanlagen und Kommunikationsverbindungen auszuschalten, die Grenze an bestimmten Stellen zu durchbrechen, vier Militärbasen zu überrennen und in mehr als zwei Dutzend Ansiedlungen nahe der Grenze einzudringen. Israels Militär wurde gleichzeitig durch Angriffe vom Meer und aus der Luft abgelenkt. Für ein paar Stunden konnten die angreifenden Terroristen Chaos verbreiten und so die Verteidigungsmaßnahmen erschweren.

Israels Selbstüberschätzung: Mit seiner ausgeklügelten Überwachung, überlegener Technik, erstklassigen Nachrichtendiensten, dem gut ausgebildeten und ausgerüsteten Militär glaubte Israel, mit der Hamas jederzeit fertig werden zu können. Dieser Hochmut führte zur Fahrlässigkeit und ermöglichte es sogar, dass ganz in der Nähe der Grenze ein Open-Air-Tanz-Festival ohne größere Sicherungsmaßnahmen abgehalten werden durfte. Es wurde in den Morgenstunden des 7. Oktober zur tödlichen Falle für 260 der Besucher.

„Ich bin überzeugt“, sagt der frühere US-Botschafter in Israel, Martin Indyk, „dass ein Grund über das Versagen von Militärs und der Geheimdienste Hybris war – der Glaube, dass die schiere Kraft und Stärke Israels die Hamas abschrecke und man sich mit längerfristigen Problemen nicht weiter beschäftigen müsse.“

Verkehrte Feindeinschätzung: Israels Nachrichtendienste konzentrierten sich auf den Erzfeind Iran und sein Atomprogramm sowie dessen Aktivitäten im Libanon und Syrien. Iran hat die verbündete Hisbollah-Miliz mit 150.000 Raketen oder mehr aufgerüstet. Israel versucht immer wieder, den Zufluss weiterer Waffen für die Hisbollah über Syrien mit Luftangriffen zu unterbinden.

Zuletzt gab es Medienberichte, wonach Iran, Hisbollah und Hamas den Terrorangriff vom 7.10. während mehrerer Geheimtreffen gemeinsam vorbereitet hätten. Die Hisbollah habe Aktionen unternommen, um die Israelis von den Angriffsvorbereitungen der Hamas abzulenken. Treffen diese Berichte zu, haben freilich nicht nur Israels Nachrichtendienste bei der Aufklärung versagt, sondern auch große westliche Geheimdienste, die die Aktivitäten des Irans im Fokus haben (sollten).

Innere Entkräftung: Israel gab durch einen monatelangen innenpolitischen Konflikt, ausgelöst durch den von der rechtsreligiösen Regierung von Benjamin Netanjahu angestrebten Umbau des Justizsystems, das Bild eines zerstrittenen, unversöhnlichen, zermürbten Landes ab.

Regierungspolitiker aus dem orthodox-religiösen Lager und radikale Siedler im Westjordanland ließen keine Gelegenheit aus, um die Palästinenser zu provozieren. Es kam deshalb in diesem Jahr schon zu zahlreichen blutigen Auseinandersetzungen, was dazu führte, dass israelische Militäreinheiten vom Gazastreifen weg ins Westjordanland verlegt wurden. Das ist der Hamas nicht entgangen.

Angeblich gab es aus Ägypten frühzeitig Warnungen an Israel, dass die Hamas „etwas Großes“ plane. Die Regierung Netanjahu dementierte. Nicht dementiert wurde, dass in der Nacht zum 7.10. verstärkte Aktivitäten im Gazastreifen entdeckt worden waren und deshalb israelische Geheimdienstchefs und Spitzenmilitärs zu Beratungen zusammenkamen.

Sie beschlossen, sich die Sache am nächsten Morgen noch einmal genauer anzuschauen, und es gab offensichtlich keine Aufforderung zu erhöhter Wachsamkeit an die Militärposten vor Ort. Nicht bekannt ist bisher, ob auch die politische Führung in den Lauf der Dinge eingeweiht wurde . . .

E-Mails an: debatte@diepresse.com

(„Presse“-Printausgabe 23.10.2023)

Der Autor

Burkard Bischof war viele Jahre Außenpolitikexperte der „Presse“ und langjähriger Leiter des Debattenressorts.

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