Der (rote) Lippenstift ist das wohl symbolträchtigste Schminkutensil, irgendwo zwischen Sexsymbol und Suffragette. Seit seiner Kreation vor 140 Jahren hält er Kunst, Wirtschaft und feministische Diskurse auf Trab. Anfänglich war er aber ein Flop.
Unzählige Lieder sind ihm gewidmet. Erst im August veröffentlichte US-Musiker Charlie Puth die Single „Lipstick“, unverbesserliche Anhänger des Eurovision Song Contests erinnern sich gewiss an das irische Duo Jedward, das 2011 eher mit Pinsel-Frisur als mit seiner musikalischen Darbietung eines gleichnamigen Songs frappierte. Zwar nicht „Lipstick“, aber „Lucky Lips“ (deutscher Titel: Rote Lippen soll man küssen) heißt die wohl bekannteste Hymne auf geschminkte Lippen, gesungen von Cliff Richards. In all diesen Titeln steht die rote oder zumindest angemalte Lippe, immer aus Sicht des Mannes, für die (sexuell) begehrenswerte Frau. Ersichtlich ist die Lesart auch anderswo: Fiktive, als Sexsymbol gehandelte Figuren, abermals von Männern gezeichnet, haben allesamt die rote Lippe gemein. Man denke an Bild-Lilli, Betty Boop oder Jessica Rabbit.
Dabei war dem Mann die Frau mit geschminkter Lippe nicht immer schon recht. 1770 erließ das britische Parlament ein Gesetz, wonach Männer ihre Ehe annullieren konnten, sollten sie einer Frau mit roten Lippen erlegen sein. Die machte sich, so der Erlass, des Betrugs schuldig. Als Schauspielerin Sarah Bernhardt Ende des 19. Jahrhunderts damit begann, ihren Lippenstift öffentlich mithilfe eines Taschenspiegels aufzutragen, sorgte das für einen „tollé général“. Der Lippenstift, damals aufgrund der neuen Form „saucisse“ (zu Deutsch Würstchen) genannt, war gerade erst geboren. Zwei Pariser Parfumeuren war es anno 1883 gelungen, rote Lippenpomade mit Hirschtalg zu festigen und in ebenjene Form zu gießen. Das Erzeugnis wurde, eingewickelt in Seidenpapier, bei der Weltausstellung in Amsterdam vorgestellt – und war zunächst ein Flop. Zu teuer, zu verschrien. Wenn überhaupt, von Frauen aus dem Theater oder der Sexarbeit getragen.