Soziale Nachhaltigkeit

Wohnen: Wie das S in ESG umgesetzt wird

Architekt Gernot Ritter verwirklichte mit dem Objekt Kiubo in Graz die Idee des Modulbaus.
Architekt Gernot Ritter verwirklichte mit dem Objekt Kiubo in Graz die Idee des Modulbaus.Karl Heinz Putz
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Die Angebote werden mehr – auch wenn die Idee des sozialen Miteinanders im Wohnbau so neu nicht ist – Beispiele aus Graz, Wien und Tulln.

Auch wenn sie als „S“ in der Mitte von ESG seit der Einführung der Taxonomieverordnung derzeit zu neuen Ehren kommt: Neu ist die Idee, auch gesellschaftliche Aspekte in die Planung einzubeziehen, nicht. Bereits 1901 propagierte die deutsche Frauenrechtlerin Lily Braun ihre revolutionäre Idee des „Einküchenhauses“ – ein Mehrparteienhaus mit zentraler Küche im Erdgeschoß, von der aus die Mahlzeiten per Essenslift in die einzelnen Wohnungen transportiert werden.

Historische Vorbilder

Eine Idee, die wenig überraschend zu Beginn der 20. Jahrhunderts schwer umstritten war, aber vor fast genau 100 Jahren in Wien Realität wurde: Am 1. Oktober 1923 wurde an der Johnstraße der sogenannte Heimhof von Architekt Otto Polak als „Einküchenhaus“ eröffnet, Zentralküche, Speiseraum und Wäschereien inklusive.

Der Heimhof in Wien: 1923 als Einküchenhaus geplant
Der Heimhof in Wien: 1923 als Einküchenhaus geplantOpen House Wien

Bereits 1911 hatte es im 18. an der Peter-Jordan-Straße 32–34 einen „Heimhof für alleinstehende beruflich tätige Frauen“ gegeben, der als Hommage an die kurz zuvor verstorbene Wiener Feministin Auguste Fickert galt, die dieses Konzept ebenfalls unterstützte. Ein langes Leben war der Idee allerdings nicht vergönnt: Mit dem Beginn des Austrofaschismus wurden die Gemeinschaftsküchen zugesperrt und die Frauen hatten sich wieder jede für sich um das Wohl der „heiligen Familie“ zu kümmern.

Solidarisches Landleben

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, die Küchen sind in die Mitte des Lebensraums gewandert, nicht mehr das kleine „Reich“ der Frauen am Ende des Ganges. Neue Ideen und Konzepte für das Wohnen im Wandel der Zeit und der Menschen braucht und gibt es aber nach wie vor – von ultra-urban bis ländlich-entspannt.

In die zweite Kategorie fällt beispielsweise das Wohnprojekt Hasendorf in der Nähe von Tulln, in dem seit gut fünf Jahren nachhaltig miteinander gelebt wird. Neben der Verwendung ökologisch vertretbarer Baumaterialien und -konzepte wird hier vor allem auf den Gemeinschaftsaspekt Wert gelegt.

Das Hasenhaus in der Nähe von Tulln.
Das Hasenhaus in der Nähe von Tulln.Hertha Hurnaus

Der sich nicht nur auf gemeinsame Feste und ein freundliches „Grüß Gott“ beschränkt, sondern auch beinhaltet, dass man sich Dinge teilt, die nicht jeder besitzen muss; es eine Gemeinschaftsküche, Fahrradwerkstatt, Werkstatt, einen Coworking-Space, einen Seminarraum und Gästezimmer gibt.

Aktiver Austausch in der Stadt

Gemeinsam werden auch die 4500 Quadratmeter Bau- und Agrarland mit einem kleinen See genutzt, wobei den Bewohnern eine „respektvolle, wertschätzende Kommunikation untereinander genauso wichtig ist wie Solidarität und gegenseitige Unterstützung in verschiedenen Lebensphasen“, wie es in der Projektbeschreibung heißt. Auch in Wien steht die Gemeinschaft bei einem besonderen Projekt im Mittelpunkt: In Penzing – genauer zwischen der Hütteldorfer Straße und der Felbigergasse – entstehen in zwei Baukörpern rund elf Wohneinheiten, die sich im Lauf der Jahre sowohl an die Jahreszeiten und klimatischen Veränderungen als auch die sich entwickelnden Bedürfnisse der Bewohner anpassen sollen.

„Living for Future“ in Wien-Penzing.
„Living for Future“ in Wien-Penzing.Schosch

Das Hausprojekt, das 2020 als Sieger eines Bauträgerwettbewerbs des Wohnfonds Wien hervorging, wurde in unterschiedlichen Zeitzyklen und Zeithorizonten konzipiert, in denen die Leitideen der Baugruppe „Living for Future“ – klimagerechtes Wohnverhalten, angepasste Wohnformate, Gemeinschaft, Gesellschaft und langfristig leistbarer Wohnraum in Wien – zum Tragen kommen.

Gelingen soll das durch eine klimagerechte Bauweise, bewusstes Wohnverhalten und einen aktiven Austausch mit der Nachbarschaft. Wie langfristig hier gedacht wurde, zeigt sich auch daran, dass das Haus durch die Beteiligung des solidarischen Dachverbands Habitat bis zum Ablauf des Baurechtsvertrages mit der Stadt Wien 2101 unverkäuflich sein und dann in den Besitz der Gemeinde übergehen soll.

Die Bedürfnisse der verschiedenen Lebensphasen stehen auch beim Projekt „Kiubo“ im Mittelpunkt, dessen Gründer, Florian Stadtschreiber, einen ganz anderen Zugang zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen in Sachen Bau gefunden hat.

Wohnraum zum Mitnehmen

„Ein zentrales Anliegen an zukunftsfähiges Bauen besteht darin, bauliche Maßnahmen mit gesellschaftlichen Veränderungen und ökologischen Anforderungen in Einklang zu bringen“, erklärt der Entwickler. „Die Menschen sind heute wesentlich mobiler und fragen ganz andere Wohnformen nach.“ Diese gibt es bei „Kiubo“ quasi „zum Mitnehmen“, denn das Konzept besteht aus einem dreistöckigen Terminal, einer Art vorn offener Rohbau aus Beton und Stiegen, in den komplette Wohnmodule hineingesetzt werden. Und bei Bedarf auch wieder herausgenommen werden können – etwa, wenn der Besitzer einem neuen Job hinterherzieht oder genug von der Stadt oder dem Wohnen auf dem Land hat. Aktuell gibt es ein erstes Terminal an der Grazer Graf-Starhemberg-Straße; „um wirklich das volle Potenzial ausschöpfen zu können, braucht es aber ein Netzwerk an Projekten.

„Kiubo“ in Graz.
„Kiubo“ in Graz.Karl Heinz Putz

Zwar sind die Bewohner in Graz auch jetzt sehr zufrieden, die große Idee dahinter funktioniert aber erst dann, wenn Module und Terminals bewegt, ortsunabhängig eingesetzt werden können und ein Sekundärmarkt entsteht.“ Derzeit arbeitet man an einem Terminal in Fertigteilbauweise, was ermöglicht, das ganze Haus ab- und in einem anderen Setting wieder aufbauen zu können. „Eine solche Immobilie könnte man beispielsweise an einen Ort stellen und, wenn dann nach 20 oder 30 Jahren das Baurecht abgelaufen ist, wieder abbauen – womit tatsächlich der Ansatz zur Kreislaufwirtschaft verwirklicht wird“, erklärt der Gründer.

Flexibler leben

Oder man könnte im Betrieb auf Veränderungen reagieren, indem man etwa Büroeinheiten aus dem Terminal herauszieht und Wohnungen einsetzt. „Flexible Häuser wie Kiubo wären also eine wirkliche städtebauliche Revolution und man hätte als Entwickler weniger Risiko, am Markt vorbeizubauen“, führt er weiter aus. Dafür aber auch Möglichkeiten oben drüber: „Wir arbeiten bereits an einem Projekt, bei dem ein Terminal über ein flaches Einkaufszentrum in der Stadt gesetzt und mit Wohneinheiten befüllt wird – womit eine Nachverdichtung ganz ohne weitere Bodenversiegelung stattfinden kann.“ Und das Konzept des Nahversorgers eine ganz neue Bedeutung bekommt.

Soziale Nachhaltigkeit

ESG und Nachhaltigkeit wird meist mit Klimaschutz, Ressourcenschonung und dahingehenden Unternehmenskonzepten in Verbindung gebracht. Das Soziale wird gerade beim Thema Immobilien allerdings sehr stark nachgefragt. Neu sind die Ideen, dass man am Land wie in der Stadt durch passende Bauplanung flexiblere und einkommensunabhängigere Wohnstandards schaffen kann, nicht: Schon Anfang der 1920er-Jahre wurde etwa in Wien auf Wohnformen wie das Einküchenhaus gesetzt, das Familien die Erwerbsarbeit durch Wegnahme diverser Haushaltstätigkeiten vereinfachte. 1938 setzte die NS-Herrschaft dem Modell ein Ende.

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